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06.10.07 / Dürfen wir alles, was wir können? / Stammzellenforschung: Forschungsfreiheit und Menschenbild im Widerstreit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-07 vom 06. Oktober 2007

Dürfen wir alles, was wir können?
Stammzellenforschung: Forschungsfreiheit und Menschenbild im Widerstreit
von George Turner

Die Meldung aus England, Wissenschaftlern sei erlaubt, menschliche Stammzellen entstehen zu lassen, die in entkernten tierischen Stammzellen ausgebrütet werden, belebt erneut die Diskussion um die Frage, ob Wissenschaftler alles dürfen, was sie können. In Deutschland fordern namhafte Forscher eine Lockerung des strengen Stammzellengesetzes, damit die deutsche Forschung und Entwicklung auf dem weltweiten Gesundheitsmarkt wettbewerbsfähig bleibt; die Beschränkung der Forschung auf adulte Stammzellen isoliere die deutsche Forschung.

Stammzellen sind Zellen in einem Stadium, von dem aus sie sich in verschiedene Gewebearten entwickeln können. Deshalb werden sie für geeignet gehalten, Ersatzgewebe für Patienten mit Alzheimer, Parkinson oder Diabetes zu züchten. Embryonale Stammzellen können aus überzähligen Embryonen, die bei einer künstlichen Befruchtung entstehen, oder abgetriebenen Föten gewonnen werden. Adulte Stammzellen stammen von lebenden Menschen. Sie können sich im Vergleich zu embryonalen Stammzellen nur begrenzt vermehren.

Unabhängig von der Frage der technisch-wissenschaftlichen Realisierbarkeit stellt sich das Problem, ob Experimente wie sie im Ausland durchgeführt werden können, unter der Geltung des Grundgesetzes überhaupt zulässig sind. Die in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes garantierte Freiheit der Forschung ist nicht grenzenlos. Die Wissenschaftsfreiheit unterliegt der allen Grundrechten immanenten Schranke des Sittengesetzes. Das ist der Inbegriff aller überpositiver ethischer Normen mit rechtlicher Verbindlichkeit. Entscheidend dafür ist das sittliche Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft.

Das Menschenbild unserer Verfassung ist nicht das eines isolierten Individuums. Der Mensch wird vielmehr als Glied einer auf der Abfolge von Generationen beruhenden humanen Gesellschaft verstanden. Die Würde des Menschen ist nicht von seinem Ursprung zu trennen. Wenn die menschliche Natur technologisch verändert wird, berührt dies das verfassungsrechtlich vorausgesetzte Menschenbild. Es gehört zur Würde des Menschen, daß die ihm von der Natur gegebene Prägung prinzipiell unantastbar bleibt. Weder darf die Würde des heute lebenden Menschen verletzt noch eine Entwicklung zugelassen werden, die irreparable Manipulationen am Bild des Menschen vornimmt.

Eine solche Wertung der Menschenwürde dürfte dem Wertgefühl der Schöpfer des Grundgesetzes entsprochen haben. Wenn der Verfassungsgeber Entwicklungen nicht bedenken konnte, die nunmehr zu beurteilen sind, wenn neue Möglichkeiten den Rahmen des bisher Vorstellbaren sprengen, hat eine Interpretation auf der Basis des aktuellen Standes des Wertebewußtseins zu erfolgen. Dieses Bewußtsein aber ist wandelbar.

Man mag zwar persönlich einen „Fortschritt“ ablehnen, wie er durch die eingangs angesprochenen Möglichkeiten denkbar wird; wie aber soll er aufgehalten werden, wenn er mehrheitlich für richtig gehalten, mindestens toleriert wird. Wer will letztlich darüber entscheiden, daß eine solche Mehrheit sich nicht gegen bisher Unveräußerliches und Unantastbares durchsetzen darf? Wenn also der Gesetzgeber, das heißt das Parlament, mehrheitlich einer veränderten Auffassung Rechnung trägt, bliebe der Weg zum höchsten Verfassungsgericht. Aber auch dieses könnte eine gewandelte Auffassung für vereinbar mit dem Grundgesetz halten.

Man muß sich fragen, ob nicht auch das Unantastbare durch veränderte Bedingungen einen gewandelten Sinn erfahren kann.

Der Wandel im Denken kann auch den Begriff der Menschenwürde beeinflussen. Die aktuelle Diskussion um die Abwägung, ob nicht das Heilen Vorrang haben sollte vor dem Hinnehmen bestimmter Gegebenheiten, die nach allgemeiner Auffassung als Behinderung verstanden werden, macht dies deutlich. Bei einem solchen tragenden Prinzip, wie es im Begriff des Menschenbildes zum Ausdruck kommt, ist allerdings besondere Zurückhaltung geboten mit der Annahme, wegen veränderter Verhältnisse sei ein Wandel des begrifflichen Inhalts eingetreten.

Wie aber, wenn das Menschenbild, das dem Grundgesetz sowohl bei seiner Schaffung als auch heute (noch) zugrunde lag und liegt, immer mehr verloren geht und an seine Stelle ein anderes tritt?

Denkbar ist folgender Fall: Einem Forscher wird nach Maßgabe bestehender Gesetze (Embryonenschutzgesetz, Stammzellengesetz) untersagt, entsprechende Arbeiten durchzuführen. Er wehrt sich dagegen und es ist schließlich über die Frage zu befinden, ob sein Recht aus Art. 5 GG beeinträchtigt ist, ob also das Verbot verfassungsgemäß sei. Gerichte könnten eine Zeitlang, vom traditionellen Verständnis und der Auslegung des Begriffs bestimmt, die Vereinbarkeit entsprechender Gesetze mit der Verfassung bestätigen. In der Vergangenheit ist es bei der Entwicklung des Richterrechts oder einer grundlegenden Änderung der Rechtsprechung in grundsätzlichen Fragen oft nur über Richtergenerationen zu anderen Auffassungen gekommen, die dann Grundlage für Entscheidungen wurden, die eine veränderte Einstellung berücksichtigten. Die Vorstellung, daß dies angesichts des rasanten Tempos bei der Gewinnung neuer Erkenntnisse in unserer Zeit viel schneller geht, scheint nicht abwegig.

Nach dem heutigen Selbstverständnis des Menschen dürfte die Auffassung, man sollte alles tun dürfen, was möglich ist, auf eine breite Ablehnung stoßen. Ob und wie lang etwa eine Selbstbindung der scientific community hält, nicht alles zu tun, was möglich ist, erscheint zweifelhaft. Dies bedeutet keine Preisgabe des überkommenen Standpunkts, was die Würde des Menschen angeht. Erhöhte Besorgnis aber ist geboten. Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“ sollten weiter mahnen.


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