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06.10.07 / Die Flucht als Serie? / Hinter den Verfilmungen verbergen sich menschliche Tragödien

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-07 vom 06. Oktober 2007

Die Flucht als Serie?
Hinter den Verfilmungen verbergen sich menschliche Tragödien
von Christel Bethke

Mach schnell das Vierte an, da läuft ein Film über die Flucht.“ Es ist schon der zweite Anruf, der sie aufschreckt. Das gerade will sie nicht, die Flucht gespielt sehen. Lassen wir das. Es ist Januar. Jahreszeit der Flucht. Jedes Jahr die gleichen quälenden Gedanken. Sie wünschte, sie erinnerte sich an einiges nicht so genau. Verlassen der Häuser, der Tiere - lasse ich sie raus, lasse ich die Stalltür offen? Was wird aus Anton, dem Schwein? Noch einmal seinen Trog vollkippen, mit der Hand durch seine Borsten hinter den Ohren kratzen. Das hat er gern. Die Hühner. Was ist mit denen? Das Wasser in ihrem Napf ist jetzt schon zugefroren. Die Katze? Was mitnehmen, was aufladen? Handwagen oder Kinderwagen? Die Kälte, das Chaos. Warum sind sie ausgerechnet den Weg gegangen, den alle zogen, warum nicht die andere Straße, die ganz leer war und die vielleicht ermöglicht hätte, daß sie alle mitgebracht hätte? Warum quälte sie sich in den Treck, der schon jetzt alles verstopfte? Warum, warum? Keine Antwort auf Fragen, die nicht mehr gestellt werden sollten.

„Mach schnell das Fernsehen an, da läuft ...“ Noch einer, der sie auf eine Sendung aufmerksam machen will, die für sie doch wohl interessant sein müßte. Gemütlich, so im Sessel liegend, ein Gläschen neben sich auf dem Tisch und ein Tellerchen mit einigen süßen Teilchen, warum nicht. Fernbedienung in der Hand zum Zappen, falls es zu langweilig werden sollte. Sie war die fast Letzte, die vor der Sprengung die Brücke überquert hatte. Die Brücke. In diesem Jahr würde sie 100 Jahre alt werden. Das wäre bestimmt ein Anlaß zum Feiern gewesen. Und 200 Jahre war es her, daß die junge Königin Luise mitten auf dem Strom für ihr Volk um Gnade bat, vor einem anderen Weltzerstörer. „Sire, sie haben mich grausam getäuscht.“ Großer Abgang. Als Kinder hatten sie diese Szene immer nachgespielt, so waren sie von dieser Historie beeindruckt gewesen. Alle wollten Königin sein. In diesem „New Look“, würde man heute sagen. Empire. Dazu hatten sie sich ein Band unter die noch nicht vorhandene Brust gebunden.

Das war Geschichte. Hier lief nun ein anderes Drama. Man verstand die Welt nicht mehr. Berta hatte vom Einfall der Russen im ersten Krieg gehört und in Ruhe abgewartet. Bis es dann auf einmal ganz schnell gehen mußte. Vergewaltigung war den Kindern schwer zu erklären. Als ihnen die Köpfe geschoren wurden, bedeckten sie mit ihren Händen nicht ihre Blöße sondern den kahlen Kopf. Reflexartig. Wieso das? Auch eine Frage, die zu beantworten wäre.

Ihre Flucht fand nicht als Serie statt. Keine Teilgeschichte, bei der man zwischendurch ausruhen konnte. Sie lief am Stück vier Monate und endete sehr viel später in der Ostzone, wo ihnen beigebracht wurde, daß alles seine Ordnung hätte, sie, sozusagen, zu den ersten der freiwillig Ausgereisten gehörten. Es blieben Lücken, die Gedanken füllten. Wenn die unmittelbare Gefahr vorüber ist, verblassen die schlimmsten Erinnerungen. Eine Art Schutz, um ein Trauma in Schach zu halten.

„Wenn ich darüber sprechen müßte, würde ich zusammenbrechen“, sagt eine Leidensgefährtin und lacht, lacht bis ihr die Tränen kommen. Mich wundert, daß ich so fröhlich bin, heißt es irgendwo. Sind sie es denn? Schon, denn als der Film gelaufen ist und sich die Anrufer mit Berta austauschen wollen, muß sie lachen. Sie begreifen nicht, daß sie das nicht kann. Der Moment ist verpaßt, wo sie hätte darüber sprechen können, ja sogar müssen. Zu Helden werden Berta und ihre Zeitgenossen nicht gehören. Abgesehen davon, daß es kaum noch Zeitzeugen gibt, und die wenigen sind so vermauert, daß sie verstummen, wenn andere zu plaudern anfangen.


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