26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.10.07 / »Ich baue sie wieder auf« / Aleksandr Anatoljewitsch Schirwindt hat große Pläne mit der Stadt gleichen Namens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-07 vom 27. Oktober 2007

»Ich baue sie wieder auf«
Aleksandr Anatoljewitsch Schirwindt hat große Pläne mit der Stadt gleichen Namens
von Wolf Oschlies

Schirwindt (russisch-kyrillisch geschrieben) heißt ein Moskauer Bühnenstar. Schirwindt (in deutsch-lateinischer Schreibweise) hieß eine deutsche Stadt im östlichsten Ostpreußen. Gegenwärtig klagt der Schauspieler Schirwindt, daß die Stadt Schirwindt „stertyj s liza semli“ – ausgelöscht sei vom Antlitz der Erde. Alle drei Elemente – Autorenname, Stadtname und russische Klage über das Stadtschicksal – stehen auf der Titelseite eines kleinen Büchleins von 208 Seiten, das anfänglich nur wenige kauften, die wohl die heimliche Paradoxie dieser Namensgleichheit anzog. Seit einigen Monaten hat sich Schirwindts „Schirwindt“ zum größten russischen Bucherfolg der letzten Jahre gemausert: Die Medien wetteifern in hymnischen Besprechungen, der Verlag „Eksmo“ druckt rund um die Uhr, das lesehungrige Publikum stiehlt einstweilen jedes Exemplar, dessen es habhaft werden kann. Diesen Ladendiebstahl hat der Autor jüngst begeistert in einem Interview herausgetratscht, wie er auch generell dafür sorgt, daß die Stadt Schwirwindt derzeit in aller Russen Munde ist. Daß Schirwindt seit dem 17. November 1947 von den Russen „Kutusowo“ genannt wird und eine menschenleere Ödnis ist, scheint vergessen – russische Zeitungen publizieren laufend alte Ansichten und Stadtpläne von Schirwindt, auch Tilsit, Gumbinnen und weitere ostpreußische Städte feiern in russischen Medien ihre namentliche Auferstehung. So viel Ostpreußen war in Rußland nie, und das ist erst der Anfang.

Am 31. Juli 1944, punkt 18 Uhr, verließen die Einwohner von Schirwindt ihre Stadt, die zuvor unter heftigen Bombardements russischer Kampfflugzeuge gelegen hatte. Damit endete die deutsche Geschichte der Stadt, die „mit deutscher Gründlichkeit“ später in einer „Eigenbau-Chronik“ von 500 Seiten in kleinster Schrift erfaßt wurde. Dieses Werk bekam Aleksandr Schirwindt geschenkt, und es bildete die Faktengrundlage seines „Schirwindt“-Buchs. Es stand ja auch alles darin: Verzeichnis der Einwohner, Lagepläne von Straßen und Häusern, Namen von Pfarrern und Lehrern aus über 100 Jahren und vieles mehr – bis zu solchen Details, daß im Winter 1845 eine Temperatur von minus 32,5 Grad gemessen wurde und daß am 1. und 2. Juli 1928 ein Meter Schnee gefallen war. Sogar über den Weggang der Einwohner fanden sich einige konkrete Daten: 26 starben während der Flucht, 191 wurden in der späteren DDR ansässig, 415 in der späteren Bundesrepublik, „über die anderen gibt es keine Angaben“. Heute soll es in Deutschland noch 40 Schwirwindter geben, „der jüngste wurde 1944 geboren“.

Als sich Jahrzehnte später die ersten Schirwindter wieder in die Heimat wagten, konnten sie zu dieser nicht durchdringen. Auf dem Gelände des alten Schirwindt war ein Truppenübungsplatz errichtet worden, dessen Einzelheiten der Historiker Gennadij Kretinin kennt: „Seine Fläche maß 20 mal 40 Kilometer, er war der größte seiner Art in der Sowjetunion. Hier fanden Militärübungen des Warschauer Paktes statt. Bis 1985 durften Deutsche nicht hierher kommen, ausgenommen der DDR-Verteidigungsminister, der bei einem Manöver Gast war. Seine Mutter war in Königsberg begraben, und er versuchte, ihr Grab zu finden. Aber in den 1980er Jahren waren die deutschen Friedhöfe von Königsberg längst beseitigt.“

Von Königsberg bis Schirwindt benötigt man heute etwa drei Stunden Autofahrt, was weniger an der Entfernung und mehr an der schlechten Straße liegt: Sie ist nicht asphaltiert – „eher für Panzer bestimmt als für nicht-wehrpflichtige ausländische Automarken“ (lästerte die Illustrierte „Ogonjok“). Wer fährt schon nach Schirwindt? Dort tun noch acht Grenzsoldaten Dienst und drei Hunde, „deutsche Schäferhunde“.

Aleksandr Schirwindt, der seit Monaten mit seinem „Schirwindt“-Buch allrussische Furore macht, bezeichnet in diesem die Umbenennung der Stadt in „Kutusowo“ als „völlig logische Sache“. Was meinte er damit, war das wieder eine der legendären „Schirwindtschen Fabeln“? Fürst und General Kutusow (1745–1813) dürfte der einzige Soldat der Militärgeschichte sein, dessen Ruhm sich auf geniale Verteidigung, kluge Rückzüge, überlegte Ausweichmanöver und ähnliche „unmilitärische“ Qualitäten gründete. So hat Kutusow Napoleon aus Rußland vertrieben – mit ähnlichen Taktiken hat Schirwindt den Sowjets getrotzt. Warum das nötig war, erzählt er in seinem Buch: „Mein zartfühlender und einmaliger Papa war ein Preuße, meine Mutter stammte aus Odessa. Als ich einmal sentimental in staubigen Familiendokumenten kramte, fand ich ein amtliches Schriftstück. Daraus ging hervor, daß mein Papa nicht Anatolij, sondern Teodor gehießen hatte. Da in jenen Jahren ein deutscher Name sogar noch gefährlicher als ein jüdischer war, erfanden sie den Anatolij, aber ich müßte eigentlich Aleksandr Teodorowitsch heißen – wunderbar!“ Es war natürlich nicht wunderbar, und es ging auch nicht um Vor- oder Vatersnamen. Das größere Ärgernis war der „deutsche“ Familienname. In einem Interview zitierte Schirwindt 2002 eine Freundin, die ihn „beneidete“, mit wieviel „Mannhaftigkeit er seinen Familiennamen verteidigte“.

Schirwindt ist (nach Ansicht seiner Millionen Bewunderer) ein „gedankentiefer, bezaubernder Zyniker“, dem man einen besoldeten Journalisten zur Seite stellen sollte, damit dieser alle seine Boshaftigkeiten notierte. Vor allem ist Schirwindt der „chosjain“ (Chef), wo immer er sich zeigt. Das erlebten am 14. Mai 2007 ungezählte begeisterte Russen, die das TV-Progamm „Echo Moskaus“ verfolgten. Dabei handelt es sich um ein hochkarätiges Frage-Antwort-Forum, das gelegentlich auch Präsident Putin für einen Dialog mit der Nation nutzt. Jetzt trat Schirwindt auf (einmal ohne seine Pfeife, die er seit über 44 Jahren kaum ausgehen läßt), der Star-Moderatorin Ksenija Larina umgehend in ein Wortgefecht der besonderen Art verwickelte. Larina legte ihm die Frage eines gewissen Nikolaj vor: „Verehrter Aleksandr, falls Sie einmal Präsident werden, wollen Sie dann Ihre Stadt Schirwindt wieder aufbauen, die doch vom Antlitz der Erde getilgt ist?“ Die Frage war nach Schirwindts Herz: „Das sage ich dir, ich baue sie wieder auf, sogar wenn ich nicht Präsident werde. Natürlich ist es nicht schlecht, Präsident zu sein, wenigstens zeitweilig, aber die Stadt muß wieder erstehen. Ich war in Kaliningrad, genauer bei Kaliningrad oder ganz genau bei Königsberg. Ich hatte dort ein Theater-Festival für Amateure zu eröffnen. Ein gutes Festival, engagierte junge Leute, aber ich fragte doch: Und wo ist meine Stadt? Da kamen die Verwaltungschefs des Bezirks, prima Jungs, und sie sagten mir: Kommen Sie zu uns, wir werden darüber nachdenken. Ich darauf: Ich brauche nicht viel. Sie: Aber es gibt keine Stadt mehr. Dort ist eine Wüste. Ich: Dann gebt mir einen Hektar, oder besser 400, damit ich dort meine Freunde ansässig mache. Du, Ksenija, kriegst auch ein Eckchen, wo du still sitzen kannst, mit dem Mikrophon vor der Nase“. Larina: „In Ordnung, aber mach’ du doch dein Radio auf, dein Schirwindt-Fernsehen, das wäre wunderbar!“ Schirwindt: „Stell dir vor, wie schön ein Programm Echo Schirwindts wäre“. Larina: „Abgemacht, wir werfen alles hin und gehen nach Schirwindt“. Schirwindt: „Und preisgünstig! Du kennst doch die astronomischen Moskauer Immobilienpreise. In Schirwindt bekommst du deinen Winkel von mir als Geschenk“. 

„Echo Moskaus“ hatte an diesem Abend ungewöhnlich wenige Anrufer und Fragensteller, aber eine Einschaltquote bis zu den Sternen. Schirwindt hätte das Moskauer Telefonbuch verlesen können, die Zuschauer wären zufrieden gewesen. Aber er tat dem Publikum den Gefallen, zu reden und zu philosophieren, zu witzeln und zu kritisieren, mit Erinnerungen zu spielen und mit Wörtern zu jonglieren, und der ganzen russischen Welt seine Baupläne für das vordem deutschen Schirwindt mitzuteilen.

Kurz nach der TV-Sendung starteten die offiziellen Präsentationen seines „Schirwindt“-Buchs, die der Autor als willkommene Gelegenheit nutzte, seine Pläne weiter auszuführen, was Mitte September etwa so klang: „Ich will Dokumente sammeln und damit beweisen, daß die Stadt Schirwindt ihren Namen zu Ehren meiner Vorfahren trägt. Dann will ich die ganze Region privatisieren und dort die Stadt meiner Vergangenheit erbauen, solange dafür noch Zeit ist“. Das war eine geniale Frechheit, die sich nur jemand wie Schirwindt erlauben durfte. Erstens ist das mit der Privatisierung von Grund und Boden in der Russischen Föderation immer noch eine schwierige Sache. Zweitens steht das ganze nördliche Ostpreußen nach wie vor unter militärischer Verwaltung. Und drittens sind Schirwindt und Umgebung offiziell immer noch Truppenübungsplatz, auf den Zivilisten keinen Fuß setzen dürfen.

Was alles nicht gilt, wenn man Schirwindt heißt. Der trat Ende September mit seinem Freund Dershawin in Königsberg in einer Boulevardkomödie auf, deren Vorstellungen vom Publikum gestürmt wurden – ungeachtet des Raubritterpreises von 1250 Rubel pro Billett, umgerechnet 35 Euro. Bei dieser Gelegenheit sang er einmal mehr sein Schirwindt-Lied: „Ich will das Land meiner Vorfahren aufkaufen und dort eine Stadt errichten“. Im Gebiet Königsberg, dieser „russischen Enklave“ zwischen Litauen und Polen, werden auch die abseitigsten Ideen erst einmal angehört, dann nach Möglichkeit umgesetzt. Nach ihrem Königsberger Gastspiel wurden Schirwindt und Dershawin nach Haselberg eingeladen, wo man für die „Ehrengäste“ ein besonderes Programm organisiert hatte. Den unerwarteten Höhepunkt der Feierlichkeiten markierte Bezirkschef Wladimir Sytnjuk, als er vor einer großen Menschenmenge erklärte: „Ich möchte unseren Gästen ein Stück Land am Ufer der Scheschupa schenken. Jeder bekommt acht Hektar“. Sofort wurden Schirwindt und Dershawin für die Fotografen an einen Baum postiert, auf dem ein Schild in deutscher Sprache prangte: „275 Jahre Schirwindt“.

„Das reicht ja gerade für eine Grabstelle“, murmelte Schirwindt, als er Sytnjuks Erklärung vernahm. Was danach geschah, hat gewiß Schirwindts milden Zynismus befriedigt: In Haselberg gab’s gewaltigen Ärger und eine Fülle von Gerüchten, denen Jurij Girevoj, Vize-Chef des Bezirks, am 1. Oktober energisch entgegentrat: „Es geht nicht um ein Verschenken von staatlichem Grundbesitz. Wladimir Sytnjuk hat ein persönliches Geschenk gemacht, keins im Namen der Stadt. Es steht ihm frei, ein Stück Land zu erwerben und dieses dann nach Belieben zu verschenken. Und die Urkunde, die Anatolij Schirwindt bekam, war keine Schenkungsurkunde, sondern ein Zertifikat über seine Ehrenbürgerschaft in der Stadt“. Das klingt nicht sehr glaubwürdig, ist aber machbar: Jetzt muß Sytnjuk nur noch den Boden kaufen, den er Schirwindt und Dershawin bereits versprochen hat. Der Kaufpreis wird bei mindestens 240000 Rubeln (6800 Euro) liegen, „doch wird er angesichts der Popularität der künftigen Besitzer gewiß um eine Mehrfaches wachsen“ (so die Moskauer „Komsomolskaja Pravda“ am 2. Oktober).

Der Schauspieler Schirwindt hat einfach nicht das Geld, „sein“ Schirwindt wieder aufzubauen. Das ist ihm auch herzlich egal: Er kennt die Pläne Moskaus, möglichst viele russische Emigranten aus dem Ausland heimzuholen und sie in ausgewählten Regionen anzusiedeln. Eine dieser „A-Zonen“ ist das Königsberger Gebiet, was im Klartext heißt, daß die Rubel für jedes Projekt rollen werden, welches regionale Attraktivität für auslandserfahrene Neubürger verspricht. Der Rest sind publikumswirksame Exkurse („Schirwindt ist die Heimat meiner Ur-Ur-Ur-Ahnen“) und Appelle an russische Sentimentalität, etwa wenn Schirwindt und Dershawin dort Blumen niederlegten, wo einst Friedhof und Kirche von Schirwindt standen.

Als das Schirwindt-Buch vor einem knappen Jahr erschien, war das eher eine Versteckung als eine Veröffentlichung: 7000 „Signal-Exemplare“ nur für die Presse. Was immer die Verlagsherren gedacht oder befürchtet hatten – das Buch machte seinen Weg, selbst aus dem fernen Los Angeles konnte die Agentur Itar-Tass begeisterte Leserreaktionen vermelden. Umgehend druckte „Eksmo“ Auflage und Auflage, jede zu 10000 Exemplaren. Dazu kamen die Buchpräsentationen, deren schönste im Moskauer Zentralen Schauspielhaus über die Bühne ging. Den Bühnenvorhang bildete ein vergrößerter Stadtplan des alten Schirwindt, von dem Autor Schirwindt kleinere oder größere Stücke an alte Freunde und Mitstreiter verschenkte – nicht etwa als Souvenir, sondern als Bürgerbrief für das neue Schirwindt, das Aleksandr Schirwindt in seinem Buch bereits entworfen hatte und nun bevölkerte. Bei dieser Gelegenheit erklang das neue Lied „Schirwindt lebt ewig“. Momentan lebt es noch (so der Autor) als „kniga-gorod“, wörtlich „Buch-Stadt“ und verstanden als virtuelle Ansiedlung in einem Straßengewirr mit teils eindeutigen Namen: „Sackgasse Unterhaltung“, „Wüstenei Hoffnung“, „Propheten-Gasse“, „Theater-Platz“ etc. Daneben hat Schirwindt andere Straßen gelegt, die er nach seinen Vorbildern oder Freunden benannte – vom „Gogol-Boulevard“ bis zur „Dershawin-Brücke“. Viele Leser werden sich fragen, was das Primäre an diesem Buch ist: Hat der Autor eine Stadt Schirwindt ersonnen, um seinen Namen und seine Autobiographie in ein interessantes Licht zu stellen? Oder konnte er nur seine Autobiographie schreiben, indem er sein Leben, seine Arbeit, seine Freunde in einer einst realen, nun auf Auferstehung wartenden Stadt seines Namens Revue passieren läßt. Schirwindt darf man danach nicht fragen, denn der hat schon eine hintergründige Warnung geäußert: „Ich bin nicht nachtragend, aber ich erinnere mich an alles“.

Etwas anders steht es um Gräber im heutigen Schirwindt. Militärisches Oberhaupt der Region ist Wladimir Sytnjuk, im Zivilberuf Historiker. Sytnjuk hat herausgefunden, daß im Ersten Weltkrieg auf einem gerodeten Waldstück ein Soldatenfriedhof für 160 gefallene russische und 160 deutsche Soldaten eingerichtet wurde. In seiner Mitte stand ein großes Eisenkreuz, das im Zweiten Weltkrieg zwar zahlreiche Beschädigungen davon trug, aber immer noch steht. Was sonst noch in Schirwindt verblieb, weiß der litauische Rentner Antanas Spranajtis aus Kudirkas-Naumestis. In den ersten Nachkriegsmonaten haben die Litauer in Schirwindt „herrenlose Güter“, Baumaterialien und anderes eingesammelt, woraus Spranajtis ein kleines „Schirwindt-Museum“ zusammengestellt hat. Leider darf er nicht mehr über die alte Eisenbrücke gehen, in deren Mitte die litauisch-russische Staatsgrenze verläuft. Als Aleksander Schirwindt ihn befragen wollte, war das nur mittels Gebrüll über die Scheschupe möglich. Anfang der 1990er Jahre gab es hier noch einen Fußgängerübergang, aber mit dem Ende der Sowjetunion wurde der verriegelt.

Daneben hatte Schirwindt einige „Rekorde“ besonderer Art aufzuweisen. Es war die östlichste Ortschaft und die kleinste Stadt des Deutschen Reichs, zudem Standort der größten Windmühle, die je gebaut worden ist. Schirwindt war die erste deutsche Ortschaft, die 1944 von der Roten Armee besetzt wurde, und es blieb die einzige Stadt Europas, die nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut wurde. Das Ausmaß der Zerstörungen in Schirwindt beschrieb im Ersten Weltkrieg der russische Lyriker Nikolaj Gumiljow (1886–1921), der als Offizier der Leibgarde eines Ulanenregiments im Herbst 1914 seine „Aufzeichnungen eines Kavalleristen“ zu Papier brachte. „…  die Zerstörungen und Brände, die Schirwindt im Zweiten Weltkrieg erlebte, sind von niemandem verzeichnet worden. Offenkundig fand sich kein Literat, der dieser Aufgabe gewachsen war“, bemerkte traurig die Moskauer Wochenzeitung „Ogonjok“.

Was sie zurückließen, waren vor allem Geschützstände, worüber die die sowjetische Zeitung „Iswestija“ (Nachrichten) bereits im Oktober 1944 schrieb: „Die Eisenbetonwände sind 2,5 bis 3 Meter dick. Einzelne Stände waren mit beweglichen Geschütztürmen versehen, die ein Rundumfeuer erlaubten. In der Umgebung der von unseren Truppen eingenommenen Stadt Schirwindt befand sich ein Geschützstand aus drei Etagen, in denen eine Garnison von 69 Soldaten untergebracht war. Diese kleine Festung besaß einen eigenen Brunnen für Trinkwasser“.

Schirwindts eigentliche Bedeutung lag in seiner Natur als Grenzstadt zu Litauen, wobei die Grenze damals wie heute vom Fluß Scheschupe markiert wird. Über den Fluß führt immer noch die 1882 erbaute Eisenbrücke, über welche die Einwohner der litauischen Nachbarstadt Wladislawow, jetzt Kudirkas-Naumestis, gern auf den berühmten Markt von Schirwindt kamen. Das galt nur für friedliche Zeiten, von denen die Stadt wenige erlebte: Im Laufe der Jahrhunderte wurde sie von Schweden erobert, von Tataren verwüstet, von Russen besetzt, im Juni und Dezember 1812 von Napoleons Truppen durchquert, die zuerst als siegesgewisses Heer, dann als dezimierter und geschlagener Haufen kamen. In beiden Weltkriegen wurde die Stadt fast zur Gänze zerstört, und wenn sie in ihrer Geschichte einmal nicht Opfer kriegerischer Händel war, dann wurde sie von Cholera, Diphtherie, Pocken und anderen Übeln heimgesucht. Kamen darum so auffallend häufig Könige und andere höchste Herrschaften nach Schirwindt, als „Trostpreis“ für eine oft gebeutelte Stadt?

Gibt es eigentlich noch ein Detail von Schirwindt, über das die Russen derzeit nicht liebevoll informiert werden? Der Ort war 1515 erstmals aktenkundig, bekam 1725 Stadtrecht und wurde 1856 von König Friedrich Wilhelm IV. mit einer großen Kirche – in ostpreußischem Russisch „kircha“, was immer ein evangelisches Gotteshaus bezeichnet – geschmückt. Baumeister war der „Architekt des Königs“ Friedrich August Stüler, von dessen Genie bis heute zahlreiche prestigeträchtige Bauwerke in ganz Deutschland zeugen, allen voran der Wiederaufbau der Hohenzollern-Burg im schwäbischen Hechingen. Mit solchen Bauten konnte sich die doppeltürmige Immanuel-Kirche von Schirwindt nicht messen, zumal der Ort immer eine Kleinstadt blieb, die 1926 ganze 668 Hektar maß und 1939 1090 Einwohner zählte.

 

Die Vita des Aleksandr Anatoljewitsch Schirwindt

Aleksandr Anatoljewitsch Schirwindt wurde am 19. Juli 1934 in Moskau geboren. Seine Mutter Raisa war eine ehemalige Schauspielerin, und schon als Kind erlebte Schirwindt alle damaligen Theaterstars als Gäste seiner Familie. 1952 trat er selber in die berühmte Schtschukin-Theaterschule ein, die heute eine Hochschule ist. 1956 beendete er die Ausbildung „mit Auszeichnung“. Sein erstes Engagement fand er beim Moskauer Komsomol-Theater, wo er im Laufe der Jahre über 30 Rollen verkörperte. Bereits als Student hatte Schirwindt zusammen mit Kommilitonen ein Kabarett gegründet, das später als die „Kapustniki“ (Kohlraupen) legendäre Erfolge hatte. Schirwindt, Dershawin, mit dem er bis heute befreundet ist, und weitere junge Akteure traten im Haus der Schauspieler mit Szenen und Sketchen auf, die alle negativen Seiten des sowjetischen Alltags veralberten. An so etwas durften die großen Theater oder der Film nicht einmal denken, da es umgehend als „Verleumdung“ gebrandmarkt worden wäre, aber die jungen Frechdachse kamen ungeschoren davon. Sie spielten täglich zweimal vor stets ausverkauftem Haus, und mit jedem neuen Programm traten sie auch in Leningrad auf, wo sich ihr Erfolg wiederholte. Als Autor und Regisseur vieler Programme war Schirwindt eine Säule der „Kapustniki“, als Akteur verbreitete er so viel fröhlich-positive Stimmung, daß die Zensur die politischen Widerhaken im Inhalt einfach übersah.

1970 trat Schirwindt ins Moskauer Satiretheater ein, wo er immer noch tätig ist, seit Dezember 2000 auch als künstlerischer Leiter. Das Theater besteht seit 1924 und zu seinem 60. „Geburtstag“ richtete Schirwindt die Revue „Schweige, Kummer, schweige“ aus, die an alle Höhen und Tiefen dieser Bühne erinnerte. Der vielseitig begabte, gutaussehende Schirwindt erlebte persönlich keine Tiefen mehr, da sich sein Hauptmakel, der Familienname, über Nacht in ein nationales Symbol verwandelt hatte. Details erzählt er in seinem Buch: „Mein verstorbener Vetter Bobka, Major bei der Artillerie, schickte mir im August 1944 einen Ausschnitt aus einer Frontzeitung mit der Schlagzeile: Wir haben Schirwindt befreit.“ Schirwindt kramte in Archiven, fand Details über die Stadt und war fortan dank seiner Namensgleichheit mit diesem Symbol sowjetischer Fronterfolge vor jedem Ärger gefeit.

1956 entdeckte der Film den Schauspieler Schirwindt, und zahlreiche Rollen, die derzeit in DVD-Version auferstehen, machten ihn zu einem der populärsten und beliebtesten Schauspieler. Offizielle Ehrungen ließen nicht lange auf sich warten: 1984 bekam er den Titel „Nationalkünstler“, 1995 wurde er Professor an seiner alten Theaterschule, dazu kamen Mitgliedschaften in Akademien und Verbänden und vieles mehr. Die originellste Ehrung dachte sich 1997 das Institut der theoretischen Astronomie der Russischen Akademie der Wissenschaften aus, als es einem kleinen Planeten den Namen „Schirwindt“ gab. W. O.

Foto: Der Schauspieler ist dem Politiker sogar einen Orden wert: Putin und Schirwindt (rechts)


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren