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01.12.07 / Blücher und die Kaschuben / Gedanken nach dem Tod einer Freundin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-07 vom 01. Dezember 2007

Blücher und die Kaschuben
Gedanken nach dem Tod einer Freundin
von Christel Bethke

Ich bin zu spät. Als ich im Krankenhaus ankomme, sagt mir die Schwester auf der Station, Blücher sei „gegen Morgen“ eingeschlafen. Ob ich sie noch einmal sehen wolle. Ich bejahe und freue mich, daß sie noch nicht weggebracht worden ist. Jemand hat auf das Laken, das über sie gebreitet ist, einige Blüten gestreut. Die Schwester schiebt mir einen Stuhl an das Bett und verläßt das Zimmer. Ich setze mich zu ihr.

Nach vierwöchigem Kampf ist endlich Frieden eingekehrt. Wie sehr hat sie am Leben gehangen und konnte nicht aufgeben. Unbedingt wollte sie 100 werden. Zuerst aber ihren 90. Geburtstag feiern, der in zwei Wochen gewesen wäre. Schon seit einem halben Jahr hat sie dafür mit ihrem Rollator Flaschen und alles mögliche angekarrt und in der Wohnung versteckt. Die Angehörigen werden sich wundern, wenn sie den Haushalt auflösen.

Alle Schläuche sind entfernt und um den geschundenen Hals liegt ein dünnes Tuch, das ihr ein fast lebendiges Aussehen gibt. Ihre Hände liegen still übereinander und sind noch etwas warm.

Ich frage sie zum letzten Mal: „Wo stammen denn all die Kaschuben her, es gibt so viele wie Sand am Meer?“ Ich horche. Gar keine Antwort? Oder doch ganz leise? „Von Stolp, von Stolp, von Stolp.“

So begann immer unser Dialog. Das heißt, es war mehr ein Monolog. Ihrer. Als ob alles, was mal das frühere Leben ausmachte, raus müßte, vom Vater, der Polsterer und Tapezierer war, von der Werkstatt, im Sommer auf den Hof verlagert, sie als kleines Kind immer mittenmang. Wie sie zu ihrem Spitznamen Blücher kam. Schließlich kannte ich ihre Geschichte fast so gut wie meine eigene.

Mit Blücher verhielt es sich so: Ihre zwei Jahre ältere Schwester wird eingeschult. Es ist nichts zu machen, die kleinere muß mit, verspricht, ganz artig zu sein. Die Lehrerin hat ein Einsehen und erlaubt es fürs erste.

Turnstunde. Sie beobachtet das Können der größeren Kinder und meint: „Die gehen ja ran wie Blücher. Das kann ich aber auch.“ Die Turnlehrerin sagt: „Na Blücher, dann stell dich hinten an und zeige, was du kannst.“ Und Blücher kann und hat ihren Spitznamen weg.

Vor ungefähr zwei Jahren wurde sie am Magen operiert und danach nicht mehr ganz gesund. Weil sie aber unglaublich am Leben  hing, ganz im Hier und Jetzt war, kam ihr der Gedanke an den Tod gar nicht.

Alter Kämpfer, denke ich, und mir kommt die Geschichte von Brecht in den Sinn „Die unwürdige Greisin“, wo es zum Schluß heißt, man sah viel Kleines, aber nichts Kleinliches. So auch hier. Dabei wurde die „Greisin“ nur 74 in der Geschichte, während Blücher immerhin fast 90 wurde.

Doch nie hätte sie sich als Greisin gesehen. Wie winzig sie ist, „Schuhgröße 34!“ sagte sie immer stolz. Aber wie groß in ihrer Disziplin. Preußisch.

Wenn sie die Geschichte vom Lastenausgleich erzählte, dann lachte sie immer. 5000 Mark erhielt sie, und weil die Schwester drei Kinder hatte und ihrer Meinung nach das Geld nötiger als sie selbst, schenkte sie es ihr. „Was meinen Sie, das die damit machte. Einen Fernseher gab es als erstes. Wir hatten keinen, aber sie.“

Statt Geburtstagskaffee wird es nun ein Beerdigungskaffee werden. Ich verabschiede mich, denn die Schwester kommt.

Wenn ich nun an ihrer Wohnungstür vorüberkomme, hinter der alles leergeräumt ist, schaue ich nach, ob nicht doch das Pappschild mit dem groß darauf gemalten „SOS“ auf der Stufe liegt. Das war ihr Zeichen: Irgendwas ist nicht in Ordnung, ich brauche Hilfe.

Nun braucht sie keine mehr und ich frage mich, ob unter den Kaschuben nicht eine Lücke entstanden ist, auch wenn es so viele wie Sand am Meer geben soll, in Stolp, in Stolp, in Stolp.


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