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22.12.07 / »Moment mal!« / Die im Dunkeln sieht man nicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-07 vom 22. Dezember 2007

»Moment mal!«
Die im Dunkeln sieht man nicht
von Klaus Rainer Röhl

Adventszeit, verlogene Zeit. Letzte Woche kam der große Lange mit den Gummibärchen und seinen Naturlocken, die aussehen wie ondulierte Haare, und der an diesem Abend nur dürftig überschminkten Altersmüdigkeit, aber der immer glaubhaft guten Laune – die glatte Stirn deutet auf Zufriedenheit hin –, auf den Bildschirm. Ehrlich, wie hieß der Gummibär-Mann noch gleich – werden die Kinder von 2015 noch seinen Namen wissen? Der machte mit Kinderlachen und Kinderdummheit und durchaus auch mit Kinderhaut noch einmal Werbung für sich und seine immer grotesker werdenden Samt & Seidenanzüge und sammelte, sozusagen nebenbei, Spenden für Kinder in Not. Not gibt es millionenfach in Deutschland, alle Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger leiden Not, vor allem ihre Kinder, das sind sechs Millionen. Sie geben aber für die Fernseh-Kamera zu wenig her, also sammelte man Geld für Kleinkinder mit sehr seltenen, fast nicht erforschten Problem-Krankheiten – Frühgeburten zum Beispiel, die nur noch ein Pfund wiegen. Das ist ein Gewicht und ein Alter, in dem die meisten Babys in Deutschland erbarmungslos abgetrieben werden, ungefähr 130000 jährlich, bei jeder dritten Schwangerschaft. Aber die hier vorgestellten Mütter wollten ihr Baby trotz aller Probleme zur Welt bringen und die „Frühchen“ eines Tages im Arm halten, und um sie dennoch gegen jede ärztliche Prognose am Leben zu erhalten, braucht es neue Geräte, Spezialisten, vor allem – Geld. Und das hatten die gut angezogenen und gut erholten Gäste des Gummibärchen-Manns reichlich, und die Schecks hatten sie auch gleich mitgebracht, ins Überdimensionale vergrößert und auf Pappschilder gezogen. 100000 Euro, das wirkte schon fast mickerig, die meisten hatten 300000 oder mehr, 500000 Euro hatte der Inhaber von Lidl „gesammelt“. Bei seinen Angestellten und dann nach oben aufgerundet. Andere seltsame Fälle von Kinderkrankheiten wurden vorgestellt und weiter Geld gesammelt und Fachleute und Eltern interviewt, und gesunde Kinder durften singen und wurden vorgeführt und gingen ins Publikum mit der Sparbüchse. Ich bin die Martina, und wie heißt du und wieviel willst du spenden? Ich heiße Dr. Sowieso von der Firma Sowieso und – klapp – drehte der Mann sein rotes Pappherz (mit der Springer-Aktion „Ein Herz für Kinder“) herum, ich spende 100000 Euro. Danke. Alles war gut gemeint und sicher auch nützlich beim Kampf gegen die seltenen Kinderkrankheiten und bei der Suche nach geschulten Fachärzten und der Vernetzung und schnelleren Information der Fachärzte, und doch war alles so furchtbar peinlich. Sicher nicht nur mir, sondern auch den Beteiligten. Alles war schief und peinlich. Sogar die von fast allen Zuschauern mit Recht geliebte Veronika Ferres war falsch geschminkt und trug ein zum Anlaß unpassendes, kraß ausgezogenes Kleid, das den Vergleich mit den schlichten oder hilflos wirkenden Kleidern der weinenden und besorgten Mütter der kranken Kinder geradezu herausforderte. Für die einen war es das bittere Leid, für die anderen eine Gala. Nichts stimmte an diesem Abend, als wenn es nicht nur den Teilnehmern, sondern auch den Dingen peinlich wäre. Selbst die Mikrophone und Monitoren stemmten sich gegen die Schnulze und drehten durch. Mußten alle Teilnehmer jedesmal Frau Springer dafür danken, daß sie diese Sendung ermöglicht hatte, und mußten die Kameraleute immer wieder den Chefredakteur Herrn Sowieso zeigen, seinen Namen wird die Geschichte nicht überliefern. Die Namen von Henri Nannen und Rudolf Augstein hat sie überliefert, die die 50er und 60er Jahre geprägt haben, kurz nach dem Zusammenbruch des Landes, das bald schon wieder aufgemöbelt war nach der Währungsreform von 1948. Wir waren wieder wer, nicht wegen, sondern trotz Volkserziehung (= eigentlich Rück-Erziehung, re-education). Da begann schon das Große Fressen. Gleich nach der Hungerzeit und den 1000 Kalorien pro Tag, die Morgenthau den Deutschen einst zumessen wollte. Viel mehr gab es wohl nicht im Hunger-Winter 1946/47. Ach ja, Morgenthau. Ich hatte den Namen fast schon vergessen, aber mein Danziger Schulkamerad Günter Grass hatte ihn nicht vergessen und brachte das mit den Kalorien auf Seite 184 seines Buches „Beim Häuten der Zwiebel“ im Zusammenhang mit der Verpflegung in einem Kriegsgefangenenlager. Auf Seite 188 gleich noch mal.

Unmittelbar nach der Währungsreform begann die große Freßwelle. „Mit Eisbein und Aspik / Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder, nach dem verlorenen Krieg“, sang Wolfgang Neuss mit seiner unverwechselbar nöligen Stimme. Alles schon vergessen? Peter Rühmkorf und ich machten schon 1949 Kabarett, eines von der ganz düsteren Sorte. Wir spielten und sangen und tanzten eine Fresser-Pantomime mit Gesang gegen die Satten. 1949 auf 1950 war das. Wie konnten wir alles vorausahnen, was heute geschieht? Unsere grausame, radikal-pazifistische und antikapitalistische Pantomimen-Revue hieß „Die im Dunkeln sieht man nicht“, und wir leerten den Saal des noch aus der NS-Zeit berühmten und witzigen Überlebenskünstlers und Spaßmachers Werner Finck jeden Abend bis auf den letzten Platz. Wir dachten, es kommt gleich wieder ein Krieg und neuer Hunger. 1950 war das. Wir wollten warnen. Wir waren gegen die Satten und für die im Dunkeln. Die Dunkelziffer über Armut und Kinderarmut in Deutschland von heute konnten wir nicht voraussehen. Daß Deutschland heute so geteilt ist, wie es nicht einmal 1950 vorstellbar war. In Menschen, die mit Mini-Renten und Hartz IV auskommen müssen, und andere, die sich Manager-Gehälter von zehn Millionen jährlich und mehr bewilligen lassen. Und deren Nutznießer, die mit etwas weniger auskommen müssen, Gewerkschaftsvorsitzende und Fernseh-Entertainer. Die Zwei-Drittel-Gesellschaft rast. Das Haus Deutschland ist ein Irrenhaus geworden. Das obere Drittel tobt durch die Belle Etage und spielt Untergang des Abendlandes. Sie können es nicht erwarten, daß die Barbaren kommen, wie die nervös und zappelig gewordenen Bürger Roms aus der späten Kaiserzeit, die aus Überdruß am Überfluß krank wurden, die sich nach einer langen, raffinierten Mahlzeit, die eigens zu diesem Zweck angefertigte Feder in den Hals steckten und alles Genossene erbrachen, damit sie aufs neue Delikatessen in sich hineinschlingen und ihre matt gewordene Sexualität mit grausamen Spielen und immer jüngeren Opfern befriedigen konnten. Aber eins kannten die Römer des vierten Jahrhunderts noch nicht: das Dunkelrestaurant Nocti Vagus in Berlin.

Damit man die erlesenen (und teuren) Speisen auch einmal wirklich schmecken und die vielfach verfeinerten Soßen – und das Parfum seiner Begleiterin einmal wirklich richtig ungestört und aufregend erschnuppern kann, hat sich ein erfinderisches Gehirn in Berlin ein Edel-Freßlokal ausgedacht. Keine Adventsstimmung mit Kerzen. Vagus ist die perfekte Simulation der Geißel der Menschheit: der Blindheit. Es ist stockdunkel im Lokal. Nur durch eine Schleuse gelangt man, nachdem man vorher alle auch nur schwach leuchtenden Gegenstände wie Uhren, Handys und andere Lichtquellen abgegeben hat, ins Stockdustere. Alles weitere mündlich. Die Bedienung besteht aus Blinden!

Darauf waren die alten Römer aus der Verfallszeit noch nicht gekommen. Sie blendeten zwar gelegentlich ihre politischen Gegner. Sie – und die nach ihnen kamen, die Byzantiner – rissen auch schon mal ihren Sklaven die Zunge heraus, damit sie über die Gespräche der Herren beim Essen kein Wort verlauten lassen konnten. Aber für ein Dunkel-Restaurant hatten sie nicht genug Phantasie.
Gibt es noch eine Steigerung? Ja: Nocti Vagus ist ein „staatlich anerkannter Integrationsfachbetrieb für Blinde“! So tut der neugierige, neureiche Berliner Flaneur – und da rundet sich das Bild und führt wieder zurück zu dem Langen mit den Gummibärchen – noch was für die Behinderten. Sie nehmen den Gast bei der Hand und führen ihn sanft an seinen Tisch und schimpfen auch nicht, wenn einer der Gäste mal ein Glas umschüttet oder mit der Hand ins Essen oder sonstwohin langt. Außerdem hält das Lokal auch künstlerische und geistige Genüsse nach dem Essen bereit, für die es nie zu dunkel sein kann. – Nein, nicht was Sie denken: „Während des Schlemmer-Menüs verwöhnen wir unsere Gäste mit einem täglich wechselnden Programm und phantasievollen Traumwelten. Höhepunkte sind: Konzerte, Theater, Braille(Blindenschrift)-Lesungen, Sinnesabende, erotische Abende, Gruselshows (!) und weitere eindrucksvolle Veranstaltungen.“ Honi soit qui bon y pense!


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