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05.01.08 / Zwischen letzter Hoffnung und bemühter Anpassung / Wie die »Jüdischen Rundschau« vor 75 Jahren die Machtergreifung der Nationalsozialisten kommentierte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-08 vom 05. Januar 2008

Zwischen letzter Hoffnung und bemühter Anpassung
Wie die »Jüdischen Rundschau« vor 75 Jahren die Machtergreifung der Nationalsozialisten kommentierte
von Konrad Löw

Wer sich mit Zeitgeschichte befaßt, glaubt eine ziemlich klare Vorstellung von dem zu haben, was vor 75 Jahren, am Ende der Weimarer Republik, am Beginn der NS-Ära die politische Szene bestimmte: Massenarbeitslosigkeit, Gewalt auf den Straßen, Judenverfolgung, Hitler spielt die Rolle des Staatsmannes, Entmachtung seiner Gegner, Deutschland verläßt den Völkerbund …

Das ist alles richtig. Und doch gibt es Überraschendes zu entdecken, wenn wir in Zeitungen von damals schmökern, so in dem Organ der deutschen Zionisten, der „Jüdischen Rundschau“, die zweimal wöchentlich in Berlin erschien. Auch ihre Meldungen und Kommentare haben einen Beitrag zum öffentlichen Meinungsbild geliefert, das weit facettenreicher war, als sich die meisten von uns heute vorstellen können. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ab dem 30. Januar, insbesondere ab den Wahlen vom 5. März, die Pressefreiheit zunächst faktisch, dann auch rechtlich eingeschränkt war. Hier einige Beispiele, alle aus dem Jahr 1933, die das Gesagte veranschaulichen und dazu beitragen, unser Bild der damaligen Ereignisse abzurunden:

Unter der Überschrift „Verrohung der Sitten“ wird am 10. Januar von einem jüdischen Mordanschlag berichtet, ein gefundenes Fressen für den „Stürmer“, das antisemitische Hetzblatt der Nationalsozialisten: „Wie von uns bereits in der vorigen Nummer kurz gemeldet, ist auf den Redakteur des ‚Israelitischen Familienblattes‘, Hamburg, Esriel Carlebach, ein Revolverattentat verübt worden, das schwere Verletzungen des Angegriffenen zur Folge hatte … Der Täter ist bisher nicht ermittelt; aber es ist charakteristisch, daß in den Kreisen der Freunde Carlebachs sowie überhaupt in der Hamburger jüdischen Öffentlichkeit kaum daran gezweifelt wird, daß das Attentat von Juden verübt worden ist.“ Als Motiv für den Mordversuch wird angenommen, daß das Opfer es gewagt habe, „in diesen Reisebriefen nicht alles schön und gut und nachahmenswert zu finden, was es bei längerem Aufenthalt in Sowjetrußland geschaut hat … Ganz unabhängig davon, ob man Carlebachs Publizistik immer bejaht, … die Anwendung von Gewalt bei jüdisch-politischen Auseinandersetzungen darf nicht zugelassen werden.“

Der Text bestätigt allem Anschein nach, was immer wieder kolportiert wurde, daß einzelne Juden als Bolschewisten völlig skrupellos für die kommunistische Sache und für die Sowjetunion gekämpft und dabei selbst nicht vor Aufruhr und Morden zurückgeschreckt hätten, ferner, daß es die Juden als Einheit nicht gegeben habe, sie vielmehr den verschiedensten Lagern angehört hätten und sich mitunter bis aufs Blut bekämpft hätten.

Am 24. Januar wurden die Leser über „Die Verelendung der Juden in Polen“ unterrichtet. Vergleiche mit den Bestrebungen der radikalen NS-Führung drängen sich auf: „Die antijüdischen Bestrebungen werden [in Polen] als Abwehrmaßnahmen und die Lehren und Taten Hitlers als oft nachahmenswerte Muster dargestellt … Die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft sind in ihrer Verdrängungspolitik gegenüber den Juden solidarisch … Die Lage der polnischen Juden hat sich demnach in der letzten Zeit verschlimmert …“ Derlei Berichte waren geeignet, nicht nur die Angst vor einer Fluchtwelle von Ostjuden zu schüren, sondern auch die antisemitischen Absichtserklärungen der Nationalsozialisten in einem milderen Licht – eben als nicht Spezifisches, Singuläres – erscheinen zu lassen.

„Jude“ war nicht nur ein Schimpfwort zur Denunziation derer, die sich irgendwie als Juden zu erkennen gaben. Die NS-Demagogen machten daraus einen Stempel, mit dem alle Gegner stigmatisiert wurden. „Auch Strasser ist ‚Jude’“ betitelte die „Jüdische Rundschau“ einen Beitrag, der wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler veröffentlicht wurde: „Daß Sozialisten, Kommunisten, deutsche Arbeiter, selbstverständlich der gesamte Liberalismus und jeder Liberale, von der nationalsozialistischen Presse schlechthin als ‚Juden‘ bezeichnet werden, war man schon gewohnt. In der letzten Zeit aber, seitdem der politische Hauptkampf nicht mehr zwischen Rechts und Links, sondern innerhalb der Gruppen der Rechten ausgefochten wird, werden auch alle kurz zuvor als völkische Kampfgenossen anerkannten Personen, sobald sie vom orthodoxen Hitlertum abfallen, zu ‚Juden‘ oder Judenknechten. Papen war Judenknecht, Hugenberg … Dr. Goebbels behauptet, ‚Strassers jüdische Abstammung sei einwandfrei erwiesen‘.“ Das Gesagte wird besonders grotesk, wenn man sich gleichzeitig vergegenwärtigt, daß dem Juden Jesus Christus die jüdische Abstammung aberkannt wurde.

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 kam für viele überraschend. Nun war einer der rabiatesten Antisemiten an der Macht. Wird aus dem Rabauken ein halbwegs gemäßigter Staatsmann? Vorsichtiges Lavieren war angesagt. „Zur Lage in Deutschland“ lautet am 3. März die Schlagzeile auf der ersten Seite. Im Text wird die antisemitische Hetze beklagt: „Die letzte Woche hat eine außerordentliche Zuspitzung der innerpolitischen Lage in Deutschland gebracht … Verabscheuungswürdige Verbrechen von unerwartetem Ausmaß, wie die Brandstiftung im Reichstag, wurden begangen, und es ist kein Wunder, daß – oft völlig unwahre – Gerüchte die Luft durchschwirren … Auch die jüdische Öffentlichkeit ist irritiert … Mit allen möglichen Geschehnissen werden Juden in Verbindung gebracht  …“ Doch: „Unsere positive jüdische Arbeit bleibt von den Vorgängen unberührt.“

Zu den seinerzeit bevorstehenden Reichstagswahlen am 5. März lautete der Kommentar: „Daß Juden keine programmatisch antisemitischen Parteien wählen können, ist eine Sache der Selbstachtung. Wir halten es aber auch nicht für richtig, … den Anschein zu erwecken, als ob Juden oder jüdische Organisationen etwas Entscheidendes zu dem Wahlkampf beitragen könnten.“ Zumindest nach außen war dies auch schon früher die Haltung der jüdischen Mehrheit: keine Einmischung in die Politik. Dann werden innerjüdische Meinungsverschiedenheiten angesprochen, die eine lange Tradition haben, so die Kritik des „Verbandes nationaldeutscher Juden“ an der großen Mehrheit der deutschen Juden.

Der folgende Artikel kommentiert die letzten – halbwegs freien – Wahlen, bei denen es die Nationalsozialisten auf 43,9 vom Hundert der abgegebenen Stimmen brachten. (Was später unter „Wahlen“ firmierte, waren keine Wahlen, da es keine Alternativen gab.) „In einer jüdischen Zeitung kann die politische Lage nur insofern Gegenstand  der Betrachtung sein, als das Schicksal der Juden mit ihr verbunden ist … Was die Judenfrage betrifft, so hört man manchmal die Meinung, daß für einen – größeren oder kleineren – Teil dieser Wählerschaft diese Frage keine so entscheidende Rolle spielt, wie man bei der Lektüre der nationalsozialistischen Publizistik meinen sollte. Das Eine freilich – und das ist das mindeste – muß festgestellt werden: Unter dieser ungeheueren Wählerschaft gibt es niemanden, der sich durch die Äußerungen der Partei zur Judenfrage von der Beteiligung abhalten ließ …“

Und zu den „Horrormeldungen des Auslands“ lautet die Stellungnahme: „Demgegenüber halten wir es für unsere Pflicht, wahrheitsgemäß festzustellen, daß Pogrome oder pogromähnliche Ausschreitungen in Deutschland nicht stattgefunden haben.“ Von den Übergriffen auf einzelne wußte die Redaktion nichts oder wollte nichts berichten.

„Zum 21. März“ lautete die fette Schlagzeile dieses Tages. Was zunächst folgt, ist geradezu dazu angetan, den deutschen Leser mit nationalem Stolz zu erfüllen: „Der heutige Tag ist ein Wendepunkt der deutschen Geschichte. Der Zusammentritt des neugewählten Reichstags in Potsdam dient der feierlichen Grundsteinlegung eines neuen Deutschen Reiches. Die deutsche Nation, durch eine gewaltige Umwälzung auf neue Grundlagen gestellt, soll einer ruhmvollen Zukunft entgegengehen. Eine Epoche europäischer Politik beginnt, in der Deutschland als entscheidender Faktor an der Neugestaltung der Welt nach den Erschütterungen der großen Krise mitarbeiten wird.“

Was folgt, sind Befürchtungen, die an Vorkommnisse der letzten Zeit anknüpfen. Doch am Ende steht die Hoffnung: „Nationalismus ist eine große ethische und ideelle Macht. Wenn der Überschwang dieser Gefühlswelt bewußt anknüpft an die Traditionen des großen Aufklärers Friedrich, … dann muß ein Staatswesen geboren werden, das über sein nationales Sein hinaus ewige Menschheitswerte verkörpert.“

Am 28. März wendet sich die „Jüdische Rundschau“ mit einer zwei Spalten langen Erklärung „Gegen Gräuelpropaganda“ und zitiert die Zionistische Vereinigung für Deutschland mit den Worten: „Wir haben uns bereits am 17. März in einer … an die gesamte jüdische Presse der Welt weitergegebenen Erklärung gegen jede deutschfeindliche Propaganda mit großer Entschiedenheit gewandt. Wir haben gegen alle der Wahrheit nicht entsprechenden Gräuelmeldungen und gewissenlosen Sensationsnachrichten Einspruch erhoben.“ Es werden dann Gräuelmeldungen abgedruckt, die offenbar fiktiver Natur waren – und doch einen wahren Kern hatten. Aber über diese top secrets konnte und durfte niemand berichten, und Anzeigen bei der Polizei, auch wenn sie Mord zum Gegenstand hatten, wurden letztlich niedergeschlagen.

Trotz der erwähnten Erklärung der Zionistischen Vereinigung fand am 1. April ein Boykott jüdischer geschäfte statt. Doch das Echo war für die Veranstalter enttäuschend. So konnte die „Jüdische Rundschau“ am 13. April auf der ersten Seite schreiben: „Neben all dem Bitteren, das die deutschen Juden als Ganzes, und einzelne deutsche Juden … in diesen Tagen durchmachen mußten, muß gerechterweise auch eine Erfahrung verzeichnet werden, die vieles aufzuwiegen vermochte. Von einer großen Zahl von Freunden und Lesern in Berlin und in allen Teilen des Reiches erhalten wir Berichte, aus denen hervorgeht, daß ein großer Teil der christlichen deutschen Bevölkerung trotz der beispiellosen Vehemenz der antijüdischen Propaganda … ein Gefühl für die wirkliche Situation bewahrt hat. Sowohl am Tage des Boykotts als auch nachher haben viele Juden von ihren Mitbürgern Zeichen der Teilnahme und des Respekts erhalten … Es handelt sich dabei keineswegs um parteimäßig abgegrenzte Kreise, sondern ausdrücklich wird hervorgehoben, daß … auch von Mitgliedern der nationalsozialistischen Partei, solche Kundgebungen zu verzeichnen sind.“

Höchst aufschlußreich, was mit sieben Zeilen am 7. April den Lesern mitgeteilt wurde: „Der Staatskommissar für die Unterrichtsverwaltung … hat die Lehrer darauf hingewiesen, daß Beschimpfungen jüdischer Schulkinder durch ihre Mitschüler nicht geduldet werden können.“

„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“ lautet die berühmte Überschrift des Leitartikels am 4. April, der mehr als eine ganze Seite füllt. Wir sind heute versucht anzunehmen, es handle sich um eine Verlautbarung vom September 1941, als die Juden verpflichtet wurden, einen gelben Stern zu tragen. Aber schon beim Boykott am 1. April 1933 wurden die jüdischen Geschäfte mit einem gelben Fleck stigmatisiert. Robert Welch, der Verfasser, stieg über Nacht zur Kultfigur auf, zumindest in zionistischen Kreisen, so viele fühlten sich angesprochen und bestärkt. Manche unterließen sogar die geplante Selbsttötung. Hier einige seiner flammenden Sätze: „Der 1. April 1933 kann ein Tag des jüdischen Erwachens und der jüdischen Wiedergeburt sein. Wenn die Juden wollen. Wenn die Juden reif sind und innere Größe besitzen. Wenn die Juden nicht so sind, wie sie von ihren Gegnern dargestellt werden.“ Später meinte er, er hätte besser zu „Packt Eure Koffer und verschwindet“ aufrufen sollen.

„Selbstkritik trotz allem!“ steht über den folgenden Betrachtungen, die, wieder als Leitartikel, am 5. Mai veröffentlicht wurden und nach wie vor bedenkenswert sind. Daraus einige Passagen: „Es ist ein billiger Triumph, sich selbst die Biederkeit zu bescheinigen, dem eigenen Volk die höchsten Prädikate zuzulegen und jede von außen kommende Kritik als ungerecht abzutun. Natürlich schmeichelt es der eigenen Eitelkeit, wenn man sich in das Gewand des unschuldig Verfolgten und Verkannten hüllt … Wir haben vielleicht noch niemals und in keinem Land eine so scharfe antisemitische Kampagne durchgemacht wie jetzt in Deutschland … Wird der Jude und das Judentum überall als minderwertig erklärt und behandelt, dann nimmt auch der Jude diese Haltung seiner Umwelt allmählich auf und empfindet sich als minderwertig … Es seien hier nur drei besonders bekannte Persönlichkeiten angeführt.“ Als erster findet Karl Marx Erwähnung, „Abkömmling einer Rabbinerfamilie, stark als Jude kenntlich, der nicht nur in seiner Schrift ‚Zur Judenfrage‘ eines der übelsten antisemitischen Pamphlete geschrieben hat, sondern auch in seinen Briefen … sich als Antisemit gebärdet. Er spricht von anderen Juden am liebsten mit der verächtlichen Bezeichnung ‚Jüdel‘ …“ – Bis heute wird diese besonders schmutzige Seite ihres Idols von unseren Marxisten nicht wahrgenommen, wenn es darum geht, ob zu seiner Ehre eine Straße oder ein Platz benannt werden soll.

Die „Selbstkritik“ fährt fort: „Die zweite Art des jüdischen Reagierens, von der wir sprechen wollen, ist eigentlich nur eine Umkehrung der ersten. Indem sich der Jude dagegen sträubt, das Urteil von seiner Minderwertigkeit einfach hinzunehmen, rettet er sich durch eine Geste der Überlegenheit … Weil wir besonders verfemt werden, ist auch die Abwehr durch Selbstüberhebung besonders nahe.“

Am 10. Mai 1933 übergaben die neuen Machthaber alles „Undeutsche“ den Flammen. Dazu die „Rundschau“ unter „Fanal und Besinnung“, so devot, wie nötig: „Die abgelaufene Woche stand im Zeichen kulturpolitischer Kundgebungen. Nachdem der Nationalsozialismus seine politische Herrschaft im Staate gesichert hat, wendet er sich mit dem Elan, der diese Bewegung auszeichnet, der Umgestaltung des geistigen Lebens in Deutschland zu … Denn Macht, so hat Minister Goebbels in einer seiner Reden sehr schön formuliert, kann sich nur durchsetzen, wenn sie mit Geist gepaart ist: Am Anfang steht die Idee. Jedes politische ist vor allem ein pädagogisches Werk. Wer das nicht weiß, wird seine politische Macht auf Sand gebaut haben. Die neuen Männer in Deutschland haben bewiesen, daß sie es wissen … Der Überschwang der Stunde, in der ein langersehntes Ziel erreicht ist, will seine Flammenzeichen weithin sichtbar machen. Dieser Einsicht dürfte es zuzuschreiben sein, daß der Gedanke eines Autodafés von Büchern in allen Kreisen des nationalen Deutschlands Verständnis und Zustimmung fand … Die Aktion ist weit ruhiger verlaufen, als nach den Ankündigungen vermutet wurde.“

 „Der Täter verhaftet“, verkündet die „Jüdische Rundschau“ am 23. Juni als Hauptschlagzeile. Und darunter: „Die furchtbare Mordtat in Palästina, der Dr. Arlosoroff zum Opfer fiel, hat bereits ihre Aufklärung gefunden. Unter dem Verdacht des Mordes wurde ein Jude, und zwar der Revisionist Abraham Stawski aus Brisk (Polen) verhaftet.“ Das erinnert an die üblichen Aufmachungen der Sensationspresse und paßt so gar nicht zu dem seriösen Blatt. Was mag der Grund sein? Vermutlich sollte niemand auf die Idee kommen, die „Rundschau“ verschweige die Bluttat, stecke vielleicht gar mit dem Täter unter einer Decke.

Fast schockierend für uns Heutige ist der folgende Beitrag, der mit „Stimmen des Blutes“ überschrieben ist. Da heißt es einleitend: „Durch die letzten Ereignisse sind viele Juden sich der Blutszusammenhänge bewußt geworden. Das Wissen um die Bedeutung des Blutes ist aber nicht erst jetzt erwacht. Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts hat die jüdische Renaissancebewegung ihren Niederschlag in einer Reihe von Dichtungen gefunden, die zeigen, wie jüdische Menschen die Macht des Blutes erlebt haben.“ Zwei Gedichte werden präsentiert, das erste von Stefan Zweig. Es beginnt mit den Versen:

„In flutendem Dunkel, halb erwacht / Und halb mit träumenden Sinnen / Hör ich mein Blut durch die Mitternacht / Mit kristallenem Singen rinnen: / ‚Was bist du? Ein verdorrter Schaft, / Den ich mit Geist durchglute. / Mich zeugt der Erde tiefste Kraft, / Das Dunkel, dem ich mich entrafft, / Zu dem ich heimwärts flute …‘“

Derlei war keine Marotte der Renaissancebewegung. In einem von Otto Dibelius und Martin Niemöller 1937 herausgegebenen Buch heißt es: „Diese göttliche Vorsehung hat eben einen Willen. Und diesen Willen offenbart sie uns in der Stimme unseres Blutes. Daß wir der Stimme unseres Blutes treubleiben und damit Gottes Willen erfüllen – darauf kommt es an. Das bedeutet zunächst, daß wir unser Blut reinhalten …“ Aber nicht alle haben dem Blute gehuldigt. Victor Klemperer in seinem Tagebuch am 11. Mai 1942: „Der Geist entscheidet, nicht das Blut.“

Der Leitartikel vom 15. August 1933 steht unter einem Zitat, nämlich „Antijüdisch und antideutsch“. Daraus einige aufschlußreiche Sätze: „Unter den Völkern der Welt gibt es nicht nur einen Judenhaß, sondern auch einen Deutschenhaß, der häufig in verblüffender Weise ganz ähnliche Erscheinungen zeitigt wie der Judenhaß … Ein Land wie Deutschland, das nach den Worten des Reichskanzlers Hitler das stärkste Interesse an der Erhaltung des Friedens hat, darf nicht übersehen, daß nationalistische Gruppen in den Deutschland benachbarten Ländern eine Gefährdung des Friedens bilden … Man kann also vom deutschen Standpunkt diese antijüdischen Gründungen in anderen Staaten nicht restlos begrüßen.“ Mit Namen wird eine neue Partei in Polen als Beleg angeführt, die „,NSPR‘, das heißt Nationalsozialistische Arbeiterpartei.“

Am 4. Oktober wird von einem Auftritt Goebbels in Genf berichtet, bei dem der Minister offen Übergriffe auf Juden einräumte. Das aber sei nicht das Ausschlaggebende vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß „die deutsche Revolution im Gegensatz zu manchen ähnlichen weltgeschichtlichen Vorgängen ein Akt der Disziplin, der Ordnung und der autoritativen Führung gewesen ist … Nichts liegt dem Nationalsozialismus ferner, als eine billige Rache zu üben … Wenn er es nicht tat, so aus dem ehrlichen Willen heraus, eine tatsächliche und praktische Lösung der Judenfrage zu finden.“ Wer sich als Jude von den schönen Worten betören ließ, war versucht, seine Koffer wieder auszupacken. Gar mancher Flüchtling kehrte nach Deutschland zurück.

War der italienische Faschismus antisemitisch? Falls ja, ab wann? Eine Antwort auf die erste Frage gibt die „Jüdische Rundschau“ schon im Oktober 1922, am Vorabend des „Marsches auf Rom“, gut zehn Jahre vor Beginn der NS-Herrschaft: „Obwohl nicht Teil des faschistischen Programms [im Unterschied zum Programm der NSDAP], sind antisemitische Tendenzen in faschistischen Kreisen weit verbreitet.“ Der Leitartikel der „Jüdischen Rundschau“ vom 7. November 1933 steht unter der Überschrift: „Faschismus und Judenfrage“ und ist geeignet, die Sicht des Jahres 1922 zu korrigieren. Den aktuellen Aufhänger bot eine Hilfskonferenz, die in London stattfand. Zahlreiche jüdische Delegationsführer kamen zu Worte. „Besondere Aufmerksamkeit fand die Ansprache des Führers der italienischen Delegation, Oberrabbiner Sacerdoti (Rom) … Es ist bekannt, daß er zu Führern des faschistischen Italien gute persönliche Beziehungen hat und die faschistische Staatsform bejaht. Es war nun besonders  interessant, von dem Redner zu hören, wie im Rahmen des faschistischen Italien, in dem die Juden volle Gleichberechtigung genießen, infolge des vom Faschismus besonders gutgepflegten historischen Gefühls und seiner konservativen Traditionswertung, eine neue Blüte des italienischen Judentums eingesetzt hat … Der italienische Faschismus hat, wie aus zahlreichen Erklärungen seines Schöpfers, Benito Mussolini, hervorgeht, niemals auch nur im mindesten antisemitische Tendenzen gezeigt.“ Aus diesen Sätzen kann mit Sicherheit gefolgert werden, daß damals das Los der italienischen Juden noch unvergleichlich besser war als das der deutschen. Daher sollten die Nationalsozialisten von den Faschisten lernen.

„Die Reichsvertretung der deutschen Juden, die die überwältigende Mehrheit aller deutschen Juden repräsentiert, hat nunmehr eine Erklärung zu der Volksabstimmung am 12. November  erlassen“, heißt es an eben diesem Tage in der „Rundschau“ auf der ersten Seite und darüber der Text dieser Erklärung: „Mit dem ganzen deutschen Volk sind auch wir Juden als Staatsbürger aufgerufen, zu der auswärtigen Politik der Reichsregierung unsere Stimme abzugeben. Sie wird gefordert für die Gleichberechtigung Deutschlands unter den Völkern, die Versöhnung der Nationen und die Befriedung der Welt: Trotz allem, was wir erfahren mußten: Die Stimme der deutschen Juden kann nur ein Ja sein. Die Reichsvertretung der deutschen Juden.“

Wer von den Gegnern Mühe und Risiko auf sich nahm, votierte – trotz der schönen Worte – dagegen. Öffentlich war ein solches Votum ausgeschlossen. Hätte die Reichsvertretung schweigen sollen? Dazu Victor Klemperer in seinem Tagebuch: „Letzten Sonntag Nachmittag waren Kaufmanns … bei uns. Es gab eine furchtbar erregte Szene, als Kaufmanns erklärten, sich zum ‚Ja‘ beim Plebiszit entschlossen zu haben, die gleiche Anweisung habe ‚schweren Herzens‘ auch der Zentralverband der deutschen Juden ausgegeben. Ich verlor alle Contenance, hämmerte mit der Faust auf den Tisch und brüllte …“ – Klemperer stimmte mit Nein, seine Frau enthielt sich.

Fotos: Händler: Auch „Rundschau“ im Angebot; Brennende Synagoge: Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde die „Jüdische Rundschau“ eingestellt.


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