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19.01.08 / Die Keksdose / Die verblüffende Wirkung kleiner Gegenstände

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-08 vom 19. Januar 2008

Die Keksdose
Die verblüffende Wirkung kleiner Gegenstände
von Renate Dopatka

Ungeduldig bohrt Martin den Zeigefinger in den Klingelknopf. Seine Zeit ist begrenzt, wie lange soll er sich hier denn noch die Beine in den Bauch stehen? Am besten, er holt den Hausmeister herbei und läßt die Wohnung mit dem Zweitschlüssel öffnen. Es ist die letzte im Haus, die er noch nicht besichtigt hat. Mit allen anderen Mietern hat er bereits gesprochen. Deutlich sieht Martin noch die betroffenen Gesichter vor sich, als er seine unangemeldete Inspektion der Wohnungen damit begründete, diese eventuell in Eigentumswohnungen umwandeln zu wollen. Nur wenige hatten sich zur Wehr gesetzt, hatten von Mieterschutz und Rechtsweg gesprochen. Die meisten seiner Mieter waren ganz einfach sprachlos vor Schrecken gewesen.

Ein grimmiges Lächeln spielt in Martins Mundwinkeln. Mit meinem Eigentum kann ich machen, was ich will. Früher, als Vater noch lebte, hatte er nur wenig Spielraum gehabt. Jede seiner Ideen, mehr Profit aus dem viergeschossigen Mietshaus herauszuholen, war am Widerstand seines Vaters gescheitert: „Junge, sei vernünftig! Die Mehrzahl unserer Mieter hat gerade genug zum Leben. Du kannst sie doch nicht auf die Straße setzen! Und genau das tust du, wenn du sie vor die Wahl stellst, entweder auszuziehen oder den Kaufpreis für die Wohnung aufzubringen. Keiner dieser Leutchen hat soviel Geld auf der Kante, daß er sich eine Eigentumswohnung leisten kann!“

„Das ist doch sentimentaler Kram!“ hatte Martin gewütet. „Man könnte meinen, du seist Pfarrer oder Sozialarbeiter und nicht Hausbesitzer!“ Ein halbes Jahr nach diesem Streitgespräch war sein Vater an einer nicht ausgeheilten Lungenentzündung gestorben. Martin als alleiniger Erbe machte sich nun sofort daran, seine langgehegten Pläne in die Tat umzusetzen. Als erstes mußte er sich natürlich einen Überblick über den Zustand der Wohnungen verschaffen, um die anfallenden Renovierungskosten veranschlagen zu können. Zuviel Geld durfte das ganze Projekt schließlich auch nicht verschlingen ...

Martins ausdauerndes Klingeln scheint Erfolg zu haben. In der Wohnung rührt sich etwas. Er hört schlurfende Schritte, Hüsteln – dann schauen freundliche blasse Augen durch den Türspalt: „Sind Sie von der Kirche, junger Mann?“ Martin zieht belustigt die Braue hoch. Daß die alte Frau nicht wissen kann, wer er ist, liegt auf der Hand. Anders als sein Vater hat er nie Wert auf persönlichen Kontakt mit den Mietern gelegt. Amüsant ist auf jeden Fall, daß dieses Mütterchen ihm zutraut, im Dienst der Kirche unterwegs zu sein ...!

In genüßlicher Erwartung der Reaktion nennt Martin seinen Namen. Doch er wird enttäuscht. Nicht furchtsamer Schrecken, sondern freudiges Erkennen gleitet über das Gesicht der alten Dame: „Das ist aber lieb, daß Sie mich besuchen! Ich weiß noch, wie Sie als ganz kleiner Bub an der Hand Ihres Vaters zu mir hochgetrippelt kamen. Ihr Herr Vater war ein so gütiger Mensch – wenn ich mal eine Reparatur zu melden hatte, dann kam er schon am nächsten Tag zu mir, um sich den Schaden anzusehen. – Aber so kommen Sie doch herein! Bei einer Tasse Tee läßt es sich viel angenehmer plaudern, nicht wahr?“ So hat Martin sich seinen Besuch nun wirklich nicht vorgestellt. Andererseits ist es vielleicht ganz gut, nicht sofort mit der Wahrheit herauszurücken. Bei so alten Leuten weiß man schließlich nie, ob sie vor Schreck nicht gleich einen Herzinfarkt bekommen und man selbst als Sündenbock dasteht.

Also kostet er höflich den Tee und beschränkt sich fürs erste aufs Zuhören. Er erfährt von längst vergangenen Zeiten, als es hier noch keinen Hausmeister gab und sein Vater überall selbst nach dem Rechten sah. Anfangs langweilt ihn das Gespräch, aber dann, als die Rede auf den kleinen Jungen von einst kommt, flammt Martins Interesse auf: „Ich kann mich gar nicht erinnern, hiergewesen zu sein. Es war wohl nur ein einziges Mal – oder?“ „Oh, das wird schon öfter gewesen sein. Als Sie dann eingeschult wurden, war’s natürlich aus mit den Besuchen. Das muß jetzt bald 30 Jahre her sein, nicht wahr?“ Martin bleibt die Antwort schuldig, denn sein Blick fällt in diesem Augenblick auf einen Gegenstand, der ihm seltsam bekannt vorkommt. Es ist eine altmodische Deckeldose aus Porzellan. Einem inneren Zwang folgend, steht er auf, um sie aus nächster Nähe zu betrachten. Es ist ihm ein Bedürfnis, mit dem Finger das etwas rissige Weinlaub-Dekor nachzuzeichnen. Und während er dies tut, steigen längst vergessene Bilder seiner Kindheit in ihm auf, und plötzlich ist da der Geschmack von Anisplätzchen in seinem Mund.

„Machen Sie sie ruhig auf“, hört er seine Gastgeberin sagen. „Ich backe noch immer nach demselben Rezept.“ Betörender Anisduft entweicht, als Martin den Deckel der Dose abhebt. Er kann nicht anders – er muß von diesen Keksen probieren! „Nun, ich hoffe, sie schmecken genauso gut wie früher?“ Martin dreht sich verlegen um: „Sie schmecken wunderbar!“ Ein Lächeln verklärt das Gesicht der alten Frau: „Das freut mich. – Aber wollen Sie nicht noch eine Tasse Tee dazu trinken?“

„Vielen Dank, aber ich muß jetzt wirklich los.“ „Oje, ich habe Sie doch nicht etwa von wichtigen Dingen abgehalten?“ Martin blickt nachdenklich in die erschrockenen blassen Augen: „Doch, das haben Sie“, erwidert er leise. „Aber eigentlich bin ich ganz froh darüber ...“


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