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26.01.08 / Schultag in Heiligenstedtenerkamp / In der Nachkriegszeit wurde vielerorts nach »Vorschrift der Besatzungsmacht« gehungert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-08 vom 26. Januar 2008

Schultag in Heiligenstedtenerkamp
In der Nachkriegszeit wurde vielerorts nach »Vorschrift der Besatzungsmacht« gehungert
von Klaus Lehmann

Im Januar 1948 berichtet ein Korrespondent der Nach­richten­agentur „Reuter“ in den Zeitungen der Bizone:

Die täglichen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften in den Industriestädten des Ruhrgebietes sind in der letzten Zeit länger, aber auch weniger geworden. In der ersten Woche des neuen Jahres zum Beispiel konnte man nur vor den Bäckerläden Schlangen sehen, denn die ganze Lebensmittelration für diese Woche bestand aus 2500 Gramm schweren, schwarzen Brotes und 500 Gramm Makkaroni oder Nudeln.“ Vor Metzger-, Fisch- oder Milchläden brauchten sich die Leute nicht anzustellen. Es gab kein Fleisch, keinen Fisch, keine Milch und kein Fett. Seit Monaten stehen keine Schlangen mehr vor den Gemüseläden. Es gibt kein Gemüse. Das ist der Hintergrund der Proteststreiks der Ruhrarbeiter. Sie streiken, obwohl sie wissen, daß die Streiks die leeren Geschäfte nicht füllen werden. Extremisten versuchen, die Lage auszunutzen, aber es wäre ihnen kein Erfolg beschieden, wenn die Durchschnittsarbeiter nicht den Zustand beinahe vollständiger Hoffnungslosigkeit erreicht hätten. So sagte ein Metallarbeiter zu mir: „Wir müssen seit Jahren von kleinsten Rationen leben. Es ist klar, daß die Streiks keine Lebensmittel bringen werden, die nicht vorhanden sind. Aber vielleicht wird jemand aufmerksam, wenn wir aufhören, Kohle und andere nötige Dinge zu produzieren. Es kann uns ja ohnehin nicht schlechter gehen als jetzt.“

Laut Vorschrift der britischen Besatzungsmacht soll jeder Deutsche in Schleswig-Holstein und Niedersachsen 1185 Kalorien pro Tag erhalten. In anderen Ländern der Westzonen gibt es nur bis zu 1000 Kalorien täglich, wenigstens auf dem Papier. Hauptantriebskraft allen Denkens und Handelns von Millionen Deutschen ist der tägliche Kampf um die so dringend benötigten Kalorien. Nur wer annähernd genug zu essen auftreiben kann, hat überhaupt eine Überlebenschance. Na­ckter Hunger ist keine Ausnahme, besonders bei den Zehntausenden Ausgebombten, die wieder zurück in ihre zerstörten Städte kommen. Aber auch in ländlichen Gebieten wird gehungert, ohne Unterschied der Herkunft und des Standes. Wohl dem der irgendwelche Beziehungen zu solchen Leuten hat, die Nahrungsmittel „besorgen“ können. „Eine Armbanduhr für eine Dauerwurst.“ „Ein Ehering für eine kleine Speckseite!“ Nicht der Rede wert, solche Alltäglichkeiten zu erwähnen. Mit Zigaretten der Besatzungsmacht, so weit man überhaupt welche auftreiben kann, erhält man alles, was es irgendwie an Waren oder menschlichen Dienstleistungen zu erstehen gibt.

Der Schwarze Markt bietet immer neue Varianten. Der Kampf um die so dringend erforderlichen Kalorien beginnt millionenfach täglich neu. „Wie werde ich satt?“ „Wie kann der kümmerliche Küchenzettel irgendwie angereichert oder erweitert werden?“ Hier ist man gezwungen, sich immer wieder neue praktizierbare Methoden einfallen zu lassen. Im März werden die Kalorienanteile pro Person auch in Schleswig-Holstein auf 1550 erhöht; jedenfalls in der dazu passenden Vorschrift.

Allzu oft klaffen jedoch die Ansprüche und die Wirklichkeit weit auseinander. Manch einer muß die schmerzliche Feststellung machen, daß seine Lebensmittelmarken wertlos sind, weil er keine Waren dafür bekommt. Der Schwarze Markt hat viele Zufuhrmöglichkeiten. Auch die öffentlichen Endausgabestellen wundern sich sehr oft, wo die versprochenen Lieferungen abgeblieben sind. Haustierhaltung ist nur mit behördlicher Genehmigung erlaubt. Die Oberaufsicht haben auch hier britische Besatzungsstellen. Auch in Itzehoe sind englische Offiziere nicht nur für ihre Soldaten zuständig. Ihr „Arm“ reicht viel weiter, oft bis in die kleinsten Dörfer. Dennoch: Not wegen der so dringend benötigten Kalorien macht auch hier immer wieder erfinderisch.

In unserem Dorf ist nicht immer jedes geschlachtete Schwein durch behördliche Genehmigung abgesegnet. Trotz gelegentlicher Kontrollen oder auch Angst vor „lieben“ Mitmenschen, die einen verraten können, wird auch in Heiligenstedtenerkamp „schwarz“ geschlachtet. Deutsche Polizeibeamte, zunächst als Hilfspolizei der britischen Besatzungsmacht unterstellt, dürfen keine Schußwaffen führen. Erlaubt sind nur Schlagstöcke. In Itzehoe sind die Gegenden um die Viehmarkthallen und am „Holzkamp“ beliebte Umschlagplätze für Schwarzmarktgüter aller Art. Auch Soldaten der britischen Besatzungsstreitkräfte schachern und handeln teilweise fleißig mit, trotz anfänglichem Fraternisierungsverbot. Englische Zigaretten sind eine äußerst begehrte Spezialität. Auch wenn man zufälligerweise Nichtraucher ist, sind sie ein sehr begehrtes Zahlungsmittel.

Deutsches Geld ist wertlos, und ausländische Währung hat man ohnehin nicht, jedenfalls nicht im Normalfall. Unser Sack Erbsen, den Vater sich „ernäht“ hat, ist fast verzehrt. „Für zwei, drei Mahlzeiten reicht es wohl noch”, meint Mutter. Ein weiterer Kunde, ein Bauer aus Neuenkirchen an der Stör, bezahlt eine angefertigte Winterjacke mit einem kleinen Rauchschinken. Den Stoff für das Kleidungsstück hatte er gleich mitgeliefert. Es handelt sich um ehemaliges Parteituch für SA-Mäntel aus aufgelösten Magazinen. Rauchschinken, Pellkartoffeln und Petersiliensauce, ein Festessen, und das nun gleich zweimal in der Woche. Allerdings wird der Schinken auf eine Scheibe pro Mahlzeit rationiert. Mutter ist da sehr pingelig, wegen der notwendigen Vorratshaltung. Kartoffeln und Grünzeug gibt der kleine Garten her, frisch und unverfälscht. Wer Kartoffeln auf dem Schwarzen Markt ergattern muß, hat schon mal das Pech, minderwertige Viehkartoffeln oder süßlich schmeckende angefrorene Exemplare mit wertvollen Tauschobjekten bezahlen zu müssen.

So hatte ein Bekannter von uns in Itzehoe eine angebliche Gans für einen Liter vorher eingetauschten ausländischen Schnaps eingehandelt. Hocherfreut über sein gutes Geschäft packte er zu Hause im Beisein seiner erwartungsvollen vielköpfigen Familie seine stolze Beute aus. Brutale Enttäuschung allerseits: Es handelt sich bei der „Gans“ um einen umwickelten Stein mit viel Papier drum herum. Die beiden verheißungsvoll herausragenden Gänsefüße waren nur am Stein angebunden. Oder ein anderer hatte vor der Viehmarkthalle fünf Dosen angebliche Hausmacherleberwurst gegen andere gute Gaben erstanden. Als er die erste Dose hungrig und erwartungsvoll aufmachte, entdeckt er undefinierbares stinkendes gelbweißen Mus in der fachgerecht verschlossenen Dose. Auch die restlichen „Hausmacherkonserven“ wiesen den gleichen undefinierbaren Inhalt aus.

In unserer Schule rückt man wie in unzähligen anderen deutschen Schulen dem ständigen Hunger durch Schulspeisung zuleibe. Die Frau des Schulleiters waltet hier ihres wichtigen Amtes. Eine weitere Frau aus der Schulnachbarschaft ist beim Zubereiten des Essens behilflich. In einem urigen Kessel werden die Mahlzeiten in einem Anbau gekocht. Der Speisenplan ist zwar nicht allzu abwechslungsreich, aber man wird wenigstens satt, ja sogar Nachschlag ist ab und zu drin. Wenn wir Glück haben, gibt es manchmal sogar „Dickes“ vom Kesselgrund. Es wird häufig Zusammengekochtes serviert. Stets unverkennbar der starke Geschmack von Maggi-Würze. Erbsensuppe, Bohnensuppe, Linsensuppe oder Dreierleisuppe, alles zusammengekocht. Meistens sind diese recht dünn. Der Löffel klingelt ordentlich am Rande des Essensbehälters, wenn die Kinder ihre Rationen verschlingen. Für manchen ist es die beste Mahlzeit des Tages. Es kommt vor, daß sogar einige Fleischstückchen oder Schwartenteile in der Suppe schwimmen, was uns besonders erfreut. Manchmal tauschen wir sogar mit solchen guten Sachen. Drei Löffel Suppe gegen ein Fleischstück­chen. Einmal in der Woche, meistens in der Mitte, gibt es Kakaosuppe, mal etwas dicklich oder auch als gut trinkbare dunkelbraune Flüssigkeit. Ab und zu wird Buttermilchsuppe süßsauer gereicht. Vereinzelt befinden sich Mehlklüten darin, manchmal auch Zwiebackstücken, die oben drauf gestreut werden. Buttermilchsuppe mit Zwieback ist mein Lieblingsessen, am liebsten mit viel Zwieback drüber. Es müßte sie nur viel öfter geben. Aber soviel Zwiebäcke lassen sich wohl auch nicht auf einmal besorgen, tröste ich mich.

Foto: Kindheitsglück: Schulspeisungen waren für die Kinder immer der Höhepunkt des Tages.


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