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26.01.08 / Wer hißte das rote Banner auf dem Reichstag? / Der erste war ein anderer, als die sowjetische Propaganda vorgab – Er starb diesen Monat in Pskow

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-08 vom 26. Januar 2008

Wer hißte das rote Banner auf dem Reichstag?
Der erste war ein anderer, als die sowjetische Propaganda vorgab – Er starb diesen Monat in Pskow
von Wolf Oschlies

Am 10. dieses Monats verstarb in Pskow Michail Minin, Jahrgang 1922, Kriegsfreiwilliger seit 1941, „Held der Russischen Föderation“ und „Held“ einer Groteske, die nie ganz aufgeklärt werden wird. In ersten Nachrufen auf Minin hieß es, er habe in den letzten Kriegstagen „das Siegesbanner auf dem Berliner Reichstag gehißt“. Jahrzehntelang war diese Tat den Soldaten Michail Jegorow und Meliton Kantarija zugeschrieben worden, und zum „Helden der Sowjetunion“ dekorierte man General Schatilow, der um die Flaggenhissung ein krauses Lügengewebe gesponnen hatte.

Um kaum eine Kriegsepisode existieren so viele Berichte, Anekdoten und Legenden wie um die Sowjetflagge auf dem Reichstag. Das von „Prawda“-Korrespondent Viktor Temin am 1. Mai von einem Tiefflieger aus aufgenommene Bild soll so oft wie kein anderes veröffentlicht worden sein, dabei mußte die gestellte Aufnahme mehrfach wiederholt werden, weil immer ein Rotarmisten-Arm mit fünf gestohlenen deutschen Uhren daran störend vor die Linse kam. Dann war es im Kasten und zeigte die angebliche Flaggenhissung. Seit einigen Jahren erscheinen immer neue Dokumentationen, welche die Geschehnisse in anderem Licht zeigen, aber keine brachte je letzte Klarheit.

Bereits im Mai 2006 hat der Historiker Georgi Kumanew, Leiter des Zentrums für Militärgeschichte Rußlands bei der Akademie der Wissenschaften, Details ausgebreitet, die aufhorchen ließen. Strategisch hatte das Gebäude des Reichstags für niemanden eine Bedeutung. Ein paar Freiwillige der französischen SS-Division „Charlemagne“ verteidigten es, Deutsche waren anderswo eingesetzt. Die Rotarmisten kümmerten sich anfänglich auch nicht darum. Ihr Auftrag war, „das Siegesbanner über Berlin zu hissen“, aber wo das genau geschehen sollte, wurde nicht erwähnt. Symbolträchtig wäre es natürlich gewesen, das Banner auf Hitlers Reichskanzlei zu stecken, aber die erwies sich als zu niedrig. Also entschied man sich für den Reichstag, denn „der hatte beeindruckendere Ausmaße“ (sagte Kumanew).

Der russische Sturm auf Berlin begann am 16. April 1945, erst zwei Wochen später war man bis in die Nähe des Reichstags gekommen. Den Rest sollten am 30. April zwei Divisionen erledigen – die 150. Schützendivision unter General Schatilow und die 171. Division unter Oberst Negoda. Deren Angriff versackte rasch, denn es fehlte Artillerieunterstützung und die Angreifer verfügten über lediglich drei Panzer. Zwei wurden von den Deutschen abgeschossen, der dritte blieb in einem riesigen Wasserloch vor dem Reichstag stecken. Weil die Verluste zu hoch waren, vertagte man die Fortsetzung des Angriffs auf die Nacht. Ein paar russische Soldaten waren dennoch in den Reichstag eingedrungen und hatten ihn bis zum ersten Stockwerk mit allerlei Fahnen, Fähnchen und roten Tüchern verziert. Das war gar nichts, nahm aber in der Meldung von General Schatilow an seinen Vorgesetzten, General Perevertnik, Riesenausmaße an: „Heute, am 30. April, haben wir um 14 Uhr 25 Minuten das Siegesbanner auf dem Reichstag gehißt.“ Perevertnik gab die frohe Botschaft an den Oberbefehlshaber Marschall Shukow weiter, der sie umgehend nach Moskau zu Stalin persönlich leitete, um dann einige Flaschen Champagner auf den Sieg zu leeren. Einer glaubte dem anderen, und die Wahrheit einzugestehen, daß der Reichstag noch gar nicht in sowjetischer Hand war, man folglich Stalin belogen hatte, dazu fehlte allen der Mut.

Generalleutnant Fedor Lisizyn – damals Politchef der 3. Stoßarmee, die die Schlußkämpfe in Berlin bestritt – erinnerte sich später an das Chaos um das „Siegesbanner“. Er hatte in aller Eile neun Siegesbanner nähen lassen, „je eins für die neun Schützendivisionen unserer Armee“, woraufhin ein grotesker „Wettlauf“ unter den Truppenteilen einsetzte. Offizieller Sieger wurde eine von Hauptmann Neustroew geführte Einheit, die ethnisch und politisch wie nach dem Sowjet-Lehrbuch gemischt war. In ihr befanden sich auch die später zu Superhelden hochgejubelten Kantarija („Abchase, parteilos“) und Jegorow („Russe, Komsomolze“). Die beiden Milchbärte, die an keiner Kampfhandlung teilgenommen hatten, waren mitgenommen worden, weil der eigentliche Gruppenführer, der hünenhafte Leutnant Aleksej Berest, Leichtgewichte brauchte, die er über eingestürzte Treppen bis zur Reichstagskuppel hieven konnte.

Als die Gruppen dort ankam, stieß sie auf eine von Hauptmann Makov geführte andere Gruppe, die längst ihr Banner gehißt hatte. Unter den fünf Soldaten war auch der jetzt verstorbene Unteroffizier Minin, der sich später an alle Details erinnerte. Die Fünf drangen als erste in den Reichstag ein und begaben sich auf dessen Dach. Dort befand sich niemand, so daß sie in aller Ruhe die mitgebrachte Flagge ausrollen und einen Platz suchen konnten, wo sie diese hissen würden. Sie fanden eine große Skulptur, eine Frau auf einem Pferd, die sie als eine Art Siegesgöttin identifizierten und als Fahnenträgerin für geeignet befanden – erst viel später ermittelte man, daß die Frauengestalt die „Germania“ darstellte. Während die Soldaten noch mit ihrer Fahne beschäftigt waren, traf einen ein Schuß an der Brust, worauf er die Fahne rasch an Minin weiterreichte. Minin bestieg mit Hilfe seiner Kameraden die Skulptur, die plötzlich zu schwanken begann. Minin stand Höllenängste aus: „Jetzt falle ich vom Dach, was für eine Schande, in diesem Moment.“ Zu seinem Glück wies die Skulptur eine Einschußlücke auf, in die er rasch die Fahne steckte, um von dem „Schaukelpferd“ umgehend wieder herunter zu kommen. Zeuge dessen war Makow, der darüber General Perevertnik Bericht erstattete. Dieser ließ die Meldung gleich verschwinden, denn die „einförmige“ Makow-Gruppe mußte hinter der „sowjet-bunten“ Neustroew-Gruppe zurückstehen, zumal Neustroew umgehend zum „Kommandanten des Reichstags“ ernannt worden war.


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