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09.02.08 / Durchstich bei Kahlberg geplant / Polen will für Elbing einen eigenen Zugang vom Frischen Haff zur Ostsee

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-08 vom 09. Februar 2008

Durchstich bei Kahlberg geplant
Polen will für Elbing einen eigenen Zugang vom Frischen Haff zur Ostsee
von Wolf Oschlies

Die 56 Kilometer lange und bis zu 1852 Meter breite Frische Nehrung könnte ein Paradies sein, in dem sich Russen, Polen, Balten und Touristen aus aller Welt schon zu Lebzeiten wie im Garten Eden fühlten. Am Ende der Eiszeit von Wind, Wasser und Sand vors Frische Haff getürmt, bietet sie sich als ökotouristisches Mustergebiet und einmaliges Reservat seltener Pflanzen und Tiere an. Dabei spielt es keine Rolle, daß die Halbinsel politisch geteilt ist: Die nördlichen 26 Kilometer bilden die russische „Baltijskaja kosa“, der südliche Rest die polnische „Mierzeja Wislana“. Die Polen haben ihre Hälfte längst in einen „Landschaftspark“ verwandelt, im Februar 2003 haben die Russen ein ähnliches Projekt für ihren Teil beraten. Alles sah gut aus, aber 2006 kam es knüppeldick für die Nehrung.

Kurz zuvor hatte Polen mit EU-Geldern in Elbing einen modernen See- und Passagierhafen gebaut, der nur über russische Hoheitsgewässer zu erreichen ist. Im Mai 2006 sperrten die Russen die 400 Meter breite Meerenge zwischen Pillau und Neutief, womit Elbing buchstäblich auf dem Trockenen landete: Sein Passagierhafen ist „tot“, der Frachthafen nur zu einem Viertel genutzt. Russische Regimekritiker munkeln, das sei ein Warnschuß russischer Militärs gegen die neuen Nato-Mitglieder Polen, Litauen, Estland und Lettland gewesen, und verweisen auf die hektische Reaktivierung von Militäranlagen in und um Pillau. Andere verfolgen die Bemühungen der Militärs, die „russische“ Nehrung an heimische und internationale Konzerne zur unbefristeten Nutzung zu verscherbeln und so die eigene Präsenz vor Ort zu verlängern und profitabel zu „vergolden“.

Das wollten sich die Polen nicht gefallen lassen. Im November 2007 beschloß die Regierung unter Jaroslaw Kaczynski – ihre letzte Amtshandlung vor der Wahlniederlage -, einen „przekop“ (Durchstich) durch die Nehrung zu graben. Dieser soll bei der Ortschaft Kahlberg liegen, wo es bereits im 14. Jahrhundert einen natürlichen Durchbruch gab. Das Grundproblem ist ja nicht neu: Die flache „Schüssel“ Frisches Haff braucht Zugänge zur Ostsee, um überhaupt wirtschaftlich nutzbar zu sein. Darum wurde 1920 in Elbing genau derselbe Plan eines Kanals bei Kahlberg gewälzt, 1932 erweitert um das Vorhaben, das ganze Haff nach holländischem Vorbild per Einpolderung trocken zu legen.

Was Deutsche damals erlebten, machen heute Polen durch – heftigsten Streit pro und contra. Alle ökonomischen Argumente werden durch ökologische Gegenargumente gekontert. Ist der Kanal lebensnotwendig oder überflüssig? Der Streit dauert an, in Brüssel und Skandinavien interessiert verfolgt, da EU-Verkehrsplaner und schwedische Segler an dem Projekt interessiert sind.

Sicher ist im Moment nur, daß mit den russischen Betonköpfen von Pillau nicht zu reden ist. An Pillau rühmt die russische Regimepresse drei Besonderheiten: Es ist der „westlichste Vorposten Rußlands“, besitzt einen großen Seehafen (was ihn vom Hafen Königsberg abhebt, der nur über einen sechs Meter flachen Kanal zu erreichen ist) und ist die „mächtigste Basis“ der Baltischen Flotte. Zudem gehört Pillau zu der russischen „Exklave Kaliningrad“, die keine Landverbindung zu Rußland hat, von diesem aber mit Energie versorgt werden muß. Der Hafen von Pillau hat einen Warenumschlag von sechs bis acht Millionen Tonnen im Jahr, weit mehr als der von Stockholm. Die reale ökonomische und eingebildete strategische Bedeutung der russischen Nehrung bewirken, daß Rußland hier keine Kompromisse eingeht, zumal es mit Danzig genug Hafenkonkurrenz hat.

Das hat viel mit der neueren Geschichte der Region zu tun. Am 25. April 1945 wurde Pillau von der Roten Armee erobert, war aber schon im Februar als eigener Marinestützpunkt ausersehen worden. Im Herbst 1945 erklärte Stalin die Stadt zur Basis des Südwestteils der Baltischen Flotte, im Januar 1956 beförderten seine Nachfolger sie zur Hauptbasis. Bei der Eroberung Pillaus wurden über 15000 deutsche Soldaten gefangengenommen, dazu ein paar Hundert Zivilisten. Alle mußten Zwangsarbeit leisten, ab Oktober 1947 wurden die zivilen Deutschen nach Mitteldeutschland abgeschoben. In Pillau zog strengste Militärordnung ein: Jeder mußte gleich mehrere Ausweise besitzen, Betreten der Strände war bis 1960 nicht erlaubt, Besitz von Radios auch nicht. In Pillau, seit dem 27. November 1946 von den Russen „Baltijsk“ genannt, lebten nur wenige Zivilpersonen, aber 20000 Militärs. Die kümmerten sich nicht um den Wiederaufbau, der erst durch die Verlegung eines Zwangsarbeitslagers hierher in Gang kam. In der Stadt herrschte unglaubliches Chaos: Kein Wasser, kein Strom, zerstörte Straßen, 3000 Offiziere ohne Wohnung. Auf Stalins Weisung wurde ein staatliches Hilfsprogramm für Pillau gestartet, an dem neun sowjetische Ministerien beteiligt waren, zumeist gegeneinander arbeitend und das Chaos mehrend.

Dennoch war Pillau bei Sowjetbürgern beliebt, dann hier ließ sich leichter ein Job bei sowjetischen Garnisonen in Polen oder der DDR ergattern, wo das Leben weit angenehmer als daheim war. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichte das Pillauer Chaos eine höhere Stufe: Einerseits blieb es eine geschlossene Garnisonsstadt, in der die Militärs nach Belieben agierten. Andererseits fielen Sowjetgesetze fort, womit schierer Wildwuchs beim Besitz von Häusern, Wohnungen und Grundstücken einsetzte. Die zivilen Behörden sind seit 1990 Marionetten des Militärs, zumeist korrupte Neureiche, die die Stadt verkommen lassen. Pillau steht bei russischen Energielieferanten dick in der Kreide, Behördenerlasse werden von russischen Gerichten häufig ungültig gemacht, was die Stadtväter nicht kümmert, da sie ihre Politik mit Drohungen gegen ihre Untergebenen doch durchsetzen.

Hauptleidtragender dieses Raubbaus ist der russische Teil der Nehrung. Seit 1995 darf sie frei besucht werden – gegen hohe Gebühren, aber ohne jede Aufsicht. Die Folgen sind in der Natur zu sehen: tiefe Autospuren im verletzlichen Dünensand, Öl-verseuchte Gewässer, Halden von Industrie- und Besuchermüll, absterbende Kiefernwälder. „Kosa gibnet – die Nehrung stirbt“, klagen die Bewohner der wenigen Dörfer, denen von „Touristen“ oft der ganze Hausrat gestohlen wird, beginnend mit den erst vor wenigen Jahren gelegten Wasserleitungen. Wenn die Militärs gegenwärtig die Nehrung „abriegeln“, dann weil sie als Alleinschuldige an deren Verwüstung viel zu verbergen haben.

Auf polnischer Seite, in Elbing, nimmt man dieses Treiben gefaßt hin, weil man Erfahrung mit Russen hat. Am 17. Juli 1949 brannte in Elbing eine Fabrik aus, was der von Sowjets dirigierte Staatssicherheitsdienst dazu nutzte, über 100 Polen, mehrheitlich Repatrianten aus Westeuropa, zu Todes- und langen Haftstrafen zu verurteilen. Daran erinnert in der Stadt der „Platz der Opfer des Elbing-Falls“, und die neue Taktik der Nachbarn hinter der Grenze zwischen Neukrug und Narmeln kommt Polen sehr bekannt vor. Selbst in der Frage des Kanals erinnert man sich in Elbing, dieses Problem schon vor Jahrzehnten mit den Sowjets beraten und von diesen ein „Njet“ bekommen zu haben.

Jetzt ist Polen in der EU, die den 1100 Meter langen und 40 Meter breiten Kanal gern sähe, sich auch kräftig an den auf 230 Millionen Euro geschätzten Baukosten beteiligen will. Ökologische Schäden befürchtet Brüssel nicht, das gerade Elbing schon mehrfach für seine Umweltprogramme auszeichnete. Aber die Nehrungs-Bewohner sind dagegen, auch Experten wie Prof. Krzysztof Luks, vormals polnischer Verkehrsminister, halten ihn für schädlich und überflüssig. Andere sind anderer Ansicht, verweisen auf internationales Interesse und erwarten vom Kanal eine Belebung der Frischen Nehrung – „eines der unbekanntesten Gebiete Europas, dabei eines der attraktivsten“. Auf den Ausgang dieses Ringens darf man gespannt sein.

Foto: Kahlberg: Schon nach dem Ersten Weltkrieg gab es Pläne, hier einen Durchstich vorzunehmen.


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