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09.02.08 / Am Schlangenberg / Alte Weisheiten und Aberglauben waren fester Berstandteil des ländlichen Alltags

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-08 vom 09. Februar 2008

Am Schlangenberg
Alte Weisheiten und Aberglauben waren fester Berstandteil des ländlichen Alltags
von Agnes Miegel

Blasser Herbstsonnenschein lag über den Stoppelfeldern, über dem grünen Hang des verschilften Grabens, ließ rote Weißdornbeeren und rötere Hagebutten aus der Heckenwirrnis am Wegrand aufleuchten und glänzte auf jeder einzelnen Brombeere, den rötlich grünen, den braunblanken, den schwarzen mit dem bläulichen Reifehauch, – nach denen unsere Kinderhände, braun und dornzerstochen, sich begehrlich reckten. Aber erschrocken fuhren wir zurück, daß die gesammelten Beeren fast aus unsern bunten Bechern glitten, so wie es im Dorngewirr unter den welkenden Blättern raschelte. Wie gelähmt vor Grauen standen wir, als da tief unten aus dem Dunkel etwas ins staubige Gras glitt und dann noch im gelbblühenden Rainfarn metallisch schimmernd entschwand – nur eine schmale Spur, wie von einem Stäbchen, blieb im Staub.

Keins von uns Kindern fand das Wort. Aber Minna, die uns hergeführt, lachte ein bißchen: „Schlangen!“ Ohne Grauen bog sie die Dornzweige zurück, spähte hinunter. „Bloß eine! Ihr habt sie erschreckt!“ Sie sah uns kopfschüttelnd an. „Angst muß man nicht haben! Das merken sie, dann werden sie ärgerlich.“

Als wir schon in unsern Betten lagen, wollte ich mehr von den Schlangen wissen. Wir wohnten oben in dem kleinen Sommerhaus. Und wer auf dem Bauch kriecht, kann sich nicht eine steile Holztreppe hinaufwinden, auch nicht, wenn man bei Mondschein seinen Namen nennt.

Aber auf alle Bitten meinte Minna bloß: „Erzählen?! Da könnt man viel. Meine Schwester war Wirtin auf der Grafschaft, als dort die böse Kuh war – aber das ist nichts für Kinder. Und wo ihr in der Stadt nicht mal an sowas glaubt.“ „Wir glauben aber –“ „Ja, ich weiß. Deine Mutter ist ja auch vom Gut. Die kann’s dir später mal erzählen. Jetzt schlaf!“

Später – es war viel später und weder Minna noch Mutter konnten mir mehr etwas „von damals“ erzählen. Aber das stille Gesicht unter der weißen Haube, das sich da im matten Schimmer des abgeblendeten Lämpchens über mein Bett neigte, glich beiden schwesterlich mit den rosigen Wangen, den hellen Augen, dem guten Lächeln, als es mir erzählte, wie man einem kranken Kind erzählt, damit es sich gesund schläft und von der grünen Heimat träumt, während draußen der eisige Ostwind Tod und Schnee ans Fenster weht.

Die Schwester stammte, ihr selbst kaum noch bewußt, aus jenem Winkel der alten Grafschaft, wo sich noch am Feuer des Opfersteins im Eschendunkel des heiligen Hains die Schlangen wärmten und aus birkener Schale die süße Milch erhielten, als bis zur Weichsel schon Kirchenglocken gingen. Sie hatte sie noch gesehn als Kind, die schönste, stattlichste Kuh der großen Herde wars gewesen.

Nicht im Stall war sie geboren, sondern draußen auf der Weide, abseits den andern Kühen, an dem von Brombeeren und Wildrosen überwucherten Hang, den Hirt und Kinder mieden, weil es unter den besonnten Ranken rauschte und glänzte vom blinkenden Geringel der Ottern. Dort lag sie im Gras, dort leckte die Mutter sie trocken, ehe der alte Hirt kam, stolz wie sie auf das wunderschöne Geschöpf mit dem weißen Stern auf der Stirn. Nie war auf dem Gut solch schönes Kalb geboren. Aber auch nie solch böses.

Es mußte allein im Verschlag stehn, weil es sich mit keinem andern der Kälbchen vertrug, es ließ die Kinder nicht mit sich spielen. Es bockte, wenn man es kraulen wollte, es trank stößig und unwillig die warme Milch aus dem Eimer.

Dann kam es auf die Weide. Aber es blieb nicht bei dem andern Jungvieh, es ging nicht mit den bunten Geschwistern zur Tränke, spielte nicht mit ihnen, täppisch und albern, es lief weit fort von ihnen, zu dem Hang, wo es geboren war, am „Schlangenberg“, wie die alten Leute ihn immer noch nannten.

Die tragende Sterke weidete dort, sie weidete dort noch, als ihr schönes, kleines, schwarzbuntes Bullkalb schon mit den andern im Kälberverschlag stand. Sie wurde der Schrecken der alten Magd und des jungen Melkers, sie hatten Angst vor ihr, ebenso wie die jungen Frauen, die sich mit klapperndem Eimer fortwandten, wenn sie dort melken sollten. Nur die Alte ließ sie heran. Aber wenn sie sich endlich melken ließ, dann war das vorher pralle, rosige Euter zusammengesunken und leer.

Da brachte man sie in den Stall. Aber es war auch dort das gleiche. Und dann wurde aus dem Nachbardorf der alte Schäfer geholt. Der schickte erstmal den jungen Melker fort und alles andre junge Volk, ja, sogar den Inspektor. Nur die alte Frau durfte bleiben. Aber weitab von ihm an der Seitentür. Und mit dem Gesangbuch in der Hand.

Der alte Schäfer sah die Kuh lange an, und seine Hand glitt über den weißen Stern auf ihrer Stirn. Sie stand ganz still. Es war, als ob sie zitterte, und ihre Flanken atmeten schwer. Aber sie sah ganz starr geradeaus und rührte sich nicht, als der Alte sich auf die kleine Bank an der Stalltür setzte, und ganz still, ganz leise, vor sich hinmurmelte.

Da, als draußen schon der Abendstern aus der grünlichen Helle blitzte, als es nach Tau und Klee duftete, alles still wurde und die erste Fledermaus über den Hof schwebte – da rauschte es im Stroh. Und die Kuh ließ sich niedergleiten und an ihrem warmen Euter trinken, was da dunkel, glatt und metallisch schimmernd sich im Stroh ringelte und dann lautlos über die Schwelle hinausglitt in die Dämmerung, über den staubigen Weg, über die tauige Wiese, bis zu dem Brombeerhang auf der Weide.

Durch den großen Stall schwellte es von brennendem Wacholder, von Beifuß und Johanniskraut, das der alte Schäfer dort verbrannte in der blassen Helle, die dem Morgenrot vorangeht in der stillsten Stunde, ehe der Hof erwacht. In derselben Stunde, als neben dem Brombeerhang eine Grube zugeschaufelt wurde, in der man in dem bleichen Licht grade noch das schöne schwarze Tierhaupt sehn konnte, ehe die lehmige Erde die großen blicklosen Augen und den weißen Stern auf der dunklen Stirn bedeckte.

Es war eine stumme und eilige Arbeit für die jungen Knechte, denn sie mußte beendet sein, ehe der erste Sonnenstrahl das Rankengewirr traf und aus dumpfem Schlaf weckte, was da erstarrt von Dunkelheit und Herbstnachtkühle schlief, friedlich geborgen wie einst, als hier unter den Eschen des heiligen Hains der Stein mit dem immer lodernden Feuer stand und die birkene Schale mit der süßen Milch.


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