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16.02.08 / Geordnetes Chaos / Wie Italien trotz permanenter politischer und wirtschaftlicher Probleme überlebt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-08 vom 16. Februar 2008

Geordnetes Chaos
Wie Italien trotz permanenter politischer und wirtschaftlicher Probleme überlebt
von Sophia E. Gerber

Das bunte Treiben des Karnevals ist vorbei und die Fastenzeit hat begonnen. Besonders geübt in der Entsagung sind die Italiener. Das ganze Jahr über verzichten die Bürger auf zuverlässige Post- und Transportdienste, einen effizienten öffentlichen Nah- und Fernverkehr, eine funktionierende Müllabfuhr, eine stabile Regierung, vertrauenswürdige Politiker sowie auf eine florierende Wirtschaft. Täglich gibt es neue Hiobsbotschaften. So brachte im Dezember vergangenen Jahres ein Lastwagenstreik die Versorgung ganzer Regionen zum Erliegen. Das Benzin wurde knapp und in den Großstädten kam es zu Panik-Hamsterkäufen. Anfang dieses Jahres sorgten der Abfallskandal in Neapel, der wochenlange Poststreik in der Lombardei und auf Sizilien sowie der nationale Fluglotsenstreik für Schlagzeilen. Den traurigen Tiefpunkt der Talfahrt erreichte Italien mit dem Scheitern der letzten Regierung. Angesichts dieser Ereignisse mögen sich externe Beobachter fragen, warum die Republik noch nicht wie ihr historischer Vorläufer, das Römische Reich, untergegangen ist. Doch hinter dem scheinbar permanenten Ausnahmezustand verbirgt sich ein Chaos mit System, eine stabile Instabilität.

Beispiel Politik: Obwohl das Land beinahe mehr Nachkriegsregierungen als Nachkriegsjahre zu verzeichnen hat, waren es oftmals dieselben Köpfe, welche die Ministerialposten unter sich aufteilten. Über Jahrzehnte hinweg dominierte die christdemokratische DC die Staatsgeschäfte. Sie war von 1946 bis 1993 ständig Regierungsmitglied und stellte in diesem Zeit-raum fast alle Ministerpräsidenten. Auch ihre Bündnispartner waren stets – obschon in wechselnder Zusammensetzung – die gleichen, nämlich die Sozialistische Partei (PSI) und die drei laizistischen Parteien der Sozialdemokraten (PSDI), der Liberalen (PLI) und der Republikaner (PRI). Ihre Anzahl blieb beschränkt, obwohl das Wahlgesetz de facto keine Sperrklausel vorsah und diverse Splittergruppen im Parlament vertreten waren. Eine solche Kontinuität der Regierungskräfte ist im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien einmalig. Sie war allerdings mehr aus der Not heraus geboren. Denn um eine Minderheitsregierung zu vermeiden, mußten die Christdemokraten mangels Alternativen meist alle vier potentiellen Koalitionspartner mit ins Boot holen. Diese Abhängigkeit der DC nutzten die Parteien aus und drohten zur Durchsetzung ihrer Interessen mit einem Bündnisaustritt – eine Drohung, die sie häufig auch wahrmachten. Sie konnten sich ja sicher sein, bei der nächsten Kabinettsbildung wieder am Tisch zu sitzen. Giulio Andreotti, der allein siebenmal Ministerpräsident war, pointierte diese Situation wie folgt: „Zehn Parteien sind auf dem politischen Feld, aber nur fünf – Christdemokraten, Sozialisten und die drei laizistischen Parteien – dürfen Tore schießen.“

Seit dem Zusammenbruch der DC und des PSI wegen krimineller Machenschaften in großem Stil haben die Anzahl der Akteure in der Regierungsverantwortung ebenso wie die Differenzen innerhalb der Koalition zugenommen. Eklatantestes Beispiel: Prodis letztes Zehn-Parteien-Bündnis. Das derzeitige Wahlrecht gibt selbst kleinsten Splittergruppierungen eine entscheidende Rolle. Die meistgewählten Parteien, die Forza Italia und die Linksdemokraten, erhalten zusammen gerade mal ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Dazu kommt eine starke Polarisierung zwischen den Lagern, die zuweilen mit rechts- und linksextremen Kräften kooperieren müssen.

Unter diesen Umständen ist eine stringente politische Linie kaum möglich. Eine wachsende Politikverdrossenheit der Bürger erscheint verständlich. Das Gefühl, keinen Einfluß auf „die da oben“ zu haben, spiegelt sich etwa in dem Ausspruch „Piove, governo ladro!“ („Es regnet. – Diese verdammte Regierung!“) wider. Nicht gerade vertrauensfördernd wirken zudem die verbreitete Korruption und die organisierte Kriminalität. Ihnen bietet der marode bürokratische Staatsapparat einen Nährboden. Doch das Mißtrauen in die staatlichen Institutionen hat auch eine positive Seite. Die Italiener haben dadurch ein hohes Maß an Pragmatismus, Improvisationsfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstorganisation entwickelt. In keinem anderen Land ist der Familienzusammenhalt so groß wie hier.

Beispiel Wirtschaft: Im EU-Vergleich hinkt die italienische Volkswirtschaft seit Jahren in vielen Bereichen hinterher. Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sind überdurchschnittlich hoch. Handel und Produktivität stagnieren. Die Haushaltslage ist desolat, nicht zuletzt weil in der Vergangenheit immer wieder klientelistische Leistungen aus der Staatskasse bezahlt wurden. Ursachen der ökonomischen Misere sind fehlende Struktur-Reformen, hohe Lohnstückkosten sowie Finanzierungslücken in den Sozial- und Rentenkassen. Doch die Wirtschaftsflaute trifft nicht für die Gesamtheit des Landes zu. Der Norden besitzt einen gut entwickelten Dienstleistungssektor. Er gehört mit seinen zahlreichen kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie mit Konzernen wie Fiat zu einer der prosperierendsten Regionen Europas. Die Großstädte Mailand, Turin und Genua sind Teil des europäischen Wirtschaftskernraums. Auch Mittelitalien verfügt über florierende Bereiche wie die Textilindustrie und die Tourismusbranche. Die Arbeitslosigkeit liegt unter sechs Prozent. Der Süden des Landes, auch Mezzogiorno genannt, stellt dagegen eines der Armenhäuser Europas dar. Er ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen und der Kontrolle diverser Wirtschaftszweige durch die Mafia. Ursachen für den Entwicklungsrückstand sind der große Landwirtschaftssektor und das dem gegenüber fehlende Dienstleistungsgewerbe. Auch Milliardeninvestitionen und Subventionsprogramme konnten diesen nicht beheben. Perlen vor die Säue sind da die aus dem Boden gestampften Industrieanlagen, wenn es im Umland nicht die notwendige Infrastruktur, Zulieferbetriebe und Fachkräfte gibt.

Auf die Fastenzeit folgt Ostern. Italien wäre nicht Italien, wenn es bis dahin nicht noch ein paar faule Eier legen und dennoch wieder aus seinem politisch-ökonomischen Morast auferstehen würde. Totgeglaubte leben eben länger.

Foto: Abgang über den roten Teppich: Romano Prodi (2. v. l.) ist erneut gescheitert.


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