28.03.2024

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01.03.08 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-08 vom 01. März 2008

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,

liebe Familienfreunde,

die Gedanken gehen jetzt immer wieder zurück in jene Zeit, die für uns ältere Vertriebene die schwerste in unserm Leben war und bleiben wird. Sie wird verstärkt heraufbeschworen durch Aufbereitung des Themas „Flucht“ in den Medien, wie jetzt bei der Ausstrahlung des ZDF-Films „Die Gustloff“ und in begleitenden Dokumentationen, für die ich auch gerade befragt wurde – und ich habe dabei wieder einmal erfahren – wie dünn das Eis des vermeintlichen Vergessens ist, eine trügerische Decke, die nicht hält. Doch darüber später, wenn die Diskussionen voll auflaufen werden. Auch das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ und die damit verbundenen Probleme beschäftigen uns mehr als zuvor. Zwar ist unsere Ostpreußische Familie dafür nicht das geeignete Forum, weil dieses Thema unser eigentliches Aufgabengebiet weit überschreitet, aber für einen Brief müssen wir eine Ausnahme machen, da er für viele unserer Leserinnen und Leser sprechen kann und ihren nie gesagten oder geschriebenen Empfindungen Ausdruck gibt. Er ist auch nicht an uns gerichtet, sondern an den Bundespräsidenten Horst Köhler, aber der Kopie lag ein kleiner Zettel bei „Zur freundlichen Kenntnisnahme! Eine Ostpreußin, die an ihren Erinnerungen sehr oft leidet!“  Wir nehmen Ihre Zeilen, liebe Schreiberin, nicht nur zur Kenntnis, sondern wollen sie weitergeben, denn nicht nur der Bundespräsident und seine zuständigen Referenten sollen sie lesen:

„Ich bin Jahrgang 1935, und ich wünsche mir, daß noch zu meiner Lebenszeit die Gedenkstätte ,Zentrum gegen Vertreibungen’ in Berlin eingeweiht wird. Ich möchte gerne dabei sein und das Lied der Ostpreußen ,Land der dunklen Wälder‘ singen und auch ,Nun danket alle Gott‘. Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich bitte Sie herzlichst, sich tatkräftig für die Gedenkstätte einzusetzen! Ich leide immer körperlich und seelisch, wenn an alle andern Menschen gedacht wird, nur nicht an das Leid der Ostdeutschen! Die Menschen der ehemaligen deutschen Ostgebiete haben Schreckliches erleben müssen. Sie erlebten keine Befreiung, sondern die Hölle auf Erden.

Am 14. April 1945 wurden die Menschen aus unserm Königsberger Stadtteil mit Gewehren aus den Häusern getrieben. Dann wurden wir zum Erschießen aufgestellt. Doch dann wurden die Männer aussortiert. Die Frauen und Kinder mußten in einen Bombentrichter. Die Tiefflieger kreisten über unsern Köpfen. Die Angst muß man erlebt haben! Der nächste Befehl! Wie Tiere wurden wir zwei Wochen lang über Felder und durch Wälder getrieben, ohne Wasser und Essen. Wir tranken aus Pfützen und bekamen Ruhr und Typhus. Nachts schliefen wir in Scheunen oder im Wald. Die Schreie der Mütter, die von ihren Kindern gerissen und vergewaltigt wurden, höre ich heute noch! Am nächsten Tag lagen viele Frauen, die sich gewehrt hatten, tot am Straßenrand. Meine Mutter erlitt auch solch ein Schicksal! Sie wurde von unsern Kinderhänden gerissen und auf einen Wagen geworfen. Als ich sie nach einigen Tagen fand, war sie an Körper und Seele gebrochen. Sie starb und wurde in einem Massengrab in der Nähe des Nordbahnhofes in Königsberg verscharrt. Mein Vater und ein anderer Hausbewohner wurden erschlagen. Meine Schwester und ich überlebten fast verhungert in einem Kinderheim. Ich konnte kaum noch stehen, ich war ,die Eule‘, hatte nur noch Augen. In einem verriegelten Viehwagen, ohne Wasser und Essen, fuhren wir 20 bis 30 Kinder, verlaust und erkrankt an Lungen- und Knochentuberkulose, mehrere Tage ins ,Reich‘ – so sagte man damals.

Das war meine Kinderarmut: Keine Eltern, kein Zuhause, Hunger ohne Ende, keine Schuhe, ständige Begleiter waren Läuse, Flöhe und Wanzen. Nachts liefen die Ratten über uns. Auf meinen Betteltouren nach Eßbarem kam ich am Friedhof vorbei, da lagen die Verhungerten gestapelt und warteten auf den Frühling, daß sie im Massengrab verscharrt werden konnten. Ich habe die Toten beneidet!

Ich hoffe, Herr Bundespräsident, Sie sehen das auch so, daß die Menschen aus Ostdeutschland auch ein Recht auf eine Gedenkstätte in der Hauptstadt ihres Vaterlandes haben. Das Hin und Her ist sehr kränkend. Laß uns Taten sehen, der Worte sind genug gewechselt.“

Soweit das Schreiben unserer Königsbergerin, das ich unverfälscht und nicht gekürzt hier wiedergegeben habe. Es soll für viele Briefe aus unserm Leserkreis stehen, die uns in den letzten Monaten erreichten und die beweisen, wie wichtig sie für die Aufarbeitung dieses Kapitels der deutschen Geschichte sind. Noch leben wir – wir Zeitzeugen!

Aber viele Lücken werden sich nie schließen lassen, denn wer kennt die Schicksale, wer nennt die Namen jener Menschen, die damals am Straßenrand verreck-ten, die irgendwann, irgendwo verscharrt wurden? Leer wird wohl auch das letzte Blatt im Lebensbuch der Großmutter von Frau Regina Weisbarth bleiben – wir hatten mit der Veröffentlichung ihres Wunsches versucht, es wenigstens etwas zu füllen. Die damals 76jährige Königsbergerin Mathilde Müller, geb. Crueger, lebte bei Kriegsende in dem Taubstummenheim in der Krausallee 69. Wir hatten in der Folge 48/07 gefragt, wer etwas über den Verbleib der Heimbewohner aussagen konnte, die noch im Februar 1945 dort lebten. Frau Weisbarth fand jetzt noch eine Postkarte, auf der ihr Onkel Friedrich Faltin am 15. März 1945 aus Königsberg schrieb, daß Frau Müller wohlauf sei und der Heimleiter, Direktor Marquard, die Insassen vorläufig noch nicht evakuieren wollte!!! Anders lautet dagegen die einzige Zuschrift, die Frau Weisbarth auf ihre Veröffentlichung hin erhielt, und die kam – aus Königsberg! Gefaxt von den Schülerinnen des russischen Lyzeums mit angeschlossenem Internat, das sich heute im erhaltenen Gebäude des ehemaligen Taubstummenheims befindet. Sie schreiben: „Sehr geehrte Frau Weisbarth, wir lernen im Lyzeum in der 8. Klasse. Wir machen ein Projekt und interessieren uns für die Geschichte unserer Schule. Vor kurzem waren wir im Archiv des Kaliningrader Gebiets, es arbeitet seit 1949, wir haben aber nur ein Foto des Gebäudes gefunden. Aus dem Buch eines der ersten Übersiedler, Iwanow Jurij Sergejewitsch haben wir erfahren, daß die Bewohner dieses Gebäudes vor dem Sturm Königsbergs nach Pillau gebracht wurden. Leider können wir nicht nachfragen, weil der Autor gestorben ist. Wir freuen uns, wenn wir Ihnen helfen könnten.“ Das war natürlich eine Überraschung. Vielleicht kommen wir jetzt aufgrund dieser Angaben in unserm Leserkreis weiter. Frau Weisbarth möchte sich jetzt noch mehr mit der Geschichte des Königsberger Taubstummenheims befassen und bittet um betreffende Literatur. Das markante Gebäude in der Krausallee 69 – heute Kaschtanowaja 141 – wurde von Emil Reinhold Arndt errichtet und hat die Zeiten überdauert. (Regina Weisbarth, Angermairweg 6, 82335 Berg, Telefon 0 81 51/ 58 55, Fax: 0 81 51/ 27 75 50).

Die Flucht – das Thema beherrscht in den letzten Wochen wie nie zuvor die an uns gerichteten Zuschriften, und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Veröffentlichung des Bildes „Treck im Februar“ in der Folge 7 mit der Frage nach dem Original eine rege Resonanz zu verzeichnen hat. Wie groß und vielseitig die sich diese allerdings schon in kürzester Zeit erweisen würde, war nicht vorauszusehen. Auch nicht, daß es dabei Überraschungen einschließlich vieler Irrungen und Fehlinterpretationen geben würde, denn um es gleich vorweg zu sagen: Es handelt sich nicht, wie bei der Frage angegeben, um einen „Treck im Februar 1945“. Zwar hatte, wie Frau Christa Mallon schreibt, diese Graphik sie sofort an einen Treck erinnert, dem die Diakonisse im Oktober 1944 zwischen Passenheim und Rauschken begegnet war und der ihrer Meinung nach aus dem Memelland kam, aber dem widersprach der nächste, von Frau Ruth Bergner geschriebene Brief, der auf eigenen Fluchterfahrungen beruht: „Einen so geordneten Treck gab es nicht, die Wagen hatten alle runde Dächer. Die Stunden zur Flucht reichten nicht aus, um die Bögen herzustellen oder zu besorgen. Latten und Pläne wurden angenagelt, Bindertücher oder Teppiche darüber gespannt. Die Pferde auf dem Bild tragen Kummetgeschirre, in Ostpreußen war das nicht üblich.“ Frau Bergner schildert ihre Flucht aus ihrem Heimatort Neu-Menzels, Kreis Mohrungen über das Frische Haff, der Treck bestand aus elf Menschen, drei Wagen und acht Pferden. Sie kann sich deshalb so gut erinnern, weil sie als 22jährige mit dem Treck vom 22. Januar bis 12. März 1945 unterwegs war! Aber einem kleinen Irrtum unterliegt auch sie, wenn sie meint, daß das Bild auf jeden Fall in Ostpreußen „zu Hause ist“. Herr Karl Feller aus Laurenziberg ordnet es schon richtiger ein: „Weder die Bauart des Wagens noch die Anspannung der Pferde stammen aus Ost- oder Westpreußen.“ Er verweist ebenfalls auf das Kummetgeschirr, das in Norddeutschland nicht gebräuchlich ist. „Die Deichsel ist viel zu hoch, also eine Notausführung, der Treck ist somit schon länger unterwegs. Der Wagen ist eine relativ leichte Ausführung. Danach dürfte er eher aus Schlesien, wahrscheinlich aus dem Sudetenland stammen, theoretisch von Umsiedlern aus Rumänien, die im Warthegau angesetzt waren.“

Und damit hat Herr Feller den Treck auf die richtige Spur gebracht, die zur Lösung führt. Sie wird von Herrn Heinz Csallner gegeben, der uns einen Auszug aus seinem Buch „Zwischen Weichsel und Warthe“, das 1989 im Dörfler-Verlag erschien und jetzt die vierte Auflage erreicht hat, übermittelt. Er schreibt dazu: „Das Bild zeigt die Umsiedlung der Wolhynien- Deutschen zu einem geordneten Treck in den Warthegau, bzw. kurz vor dieser Zeit, Ende 1939. Dieses Foto ist in meinem Standardwerk über die Provinz Posen, damaliger Warthegau abgebildet. Ich entnahm es einem Buch – der Titel ist mir leider nicht bekannt – das von den deutschen Behörden ebenfalls 1939 herausgegeben wurde.“ Daß es sich unmöglich um ein Fluchtmotiv handelt, beweist Herr Csallner so: „Man sieht keine Menschen, weder Kinder noch ihre Begleitung, die neben den vollbepackten Wagen liefen. Die rund 20 Planwagen der wohlgeordneten Kolonne sehen alle gleich aus. Also eine eindeutig von der Partei bzw. den Behörden von langer Hand geplante Umsiedlung!“ Herr Csallner hat das Bild unzählige Male in vielen Publikationen mit falschen Unterschriften entdeckt und sogar als Buchtitel. Frau Borkowski aus Tornesch weist auf das Buch „Soweit Gedanken tragen“ von Pfarrer Klaus Langkau hin. Ich nehme an, daß nach diesen frühen Hinweisen noch weitere kommen, aber ob und welcher Graphiker das Motiv für die Künstlerpostkarte benutzt hat, dürfte sich kaum klären lassen. Es könnte aber auch ein Fotograf gewesen sein, der die Karte gestaltet hat, wie Herr Dieter Gehlhaar vermutet. Und er erklärt auch wie: Von einem Originalfoto oder auch einem Druck – mit hoher Rasterzahl – wird ein Abzug (Positiv) auf einen Film gemacht. Nach der Entwicklung entsteht dann ein solches Bild, von dem ein „Druckstock“ gemacht werden kann. Na, vielleicht meldet sich ja noch der Gestalter, in unserer Ostpreußischen Familie ist eben alles möglich. Ich bin jedenfalls überrascht und erfreut über die lebhafte Reaktion auf eine kleine Anfrage und sage allen Leserinnen und Lesern, die so spontan reagiert haben, unsern herzlichsten Dank. Vielleicht kann mit dieser Aufklärung manchem noch möglichen Irrtum vorgebeugt werden, denn eines ist klar: Ein Bild von einem ostdeutschen Flüchtlingstreck ist es nicht!


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