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12.04.08 / Ungarn vor dem Bürgerkrieg? / Vom Vorzeige-Mitglied der EU zum Sorgenkind Europas

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-08 vom 12. April 2008

Ungarn vor dem Bürgerkrieg?
Vom Vorzeige-Mitglied der EU zum Sorgenkind Europas
von Wolf Oschlies

Morbus hungaricus“ wurde der Selbstmord im 19. Jahrhundert genannt: ungarische Krankheit. Die hohe Selbstmordneigung der Ungarn hatte zu dieser Benennung geführt, die gegenwärtig erneut auftaucht: Krank, „sehr krank“ sei Ungarn wirtschaftlich – politisch leide es an einer „bürgerkriegsähnlichen Mentalität“, befand 2006 der ungarische Philosoph Laszlo Földenyi. Die Lage gab ihm damals wie heute Recht. Ungarn, einst wirtschaftliches Wunderkind Osteuropas, ist heute Schlußlicht der EU: 9,2 Prozent Haushaltsdefizit und magere 1,3 Prozent Wirtschaftswachstum. Notwendige Reformen werden von politischen Lagerkämpfen blockiert, Ende März zerbrach die Mitte-Links-Regierung, die rechtskonservative Opposition flirtet mit aggressiv-chauvinistischen Organisationen. Ungarn erweckt Besorgnis in Brüssel und in Osteuropa.

Nachdem Ungarn am 11. September 1989 seine Westgrenze für DDR-Bürger geöffnet hatte, galt es im Westen als reformpolitischer Hoffnungsträger. Auch sein politisches System erschien exemplarisch stabil: mustergültige Verfassung, beständige Parteien, in den vergangenen 18 Jahren keine vorgezogenen Neuwahlen. 2002 ging selbst der Machtwechsel von dem konservativen Fidesz unter Viktor Orban zu den postkommunistischen Sozialisten (MSZP) geräuschlos über die Bühne.

Das änderte sich mit dem Aufstieg von Ferenc Gyurcsany – bis 1988 Chef des kommunistischen Jugendverbands, in der „wilden Privatisierung“ nach 1990 Multimillionär geworden – zum Ministerpräsidenten (2004) und MSZP-Vorsitzenden (2007). Am 26. Mai 2006 hielt er in einer geschlossenen Fraktionssitzung eine Rede, in der er mit drastischer Offenheit eingestand, die Ungarn seit zwei Jahren zu belügen und „daß wir dermaßen jenseits der Möglichkeiten des Landes sind, wie wir es uns nie vorher vorstellen konnten“. Die Rede wurde öffentlich bekannt und löste endlose und maßlose politische Kämpfe aus.

Ungarn wurde bis zum März 2008 von einer Koalition aus MSZP und SZDSZ (Liberale) regiert. Die Regierung verordnete dem Land ein harsches Reformprogramm, das Ungarn aus der „Lügenspirale“, dem Selbstbetrug über die eigenen Möglichkeiten, herausholen sollte. Mehrwertsteuer und Energiepreise stiegen, Sparpakete der Regierung bürdeten den Ungarn die zweithöchste Steuerbelastung (54,4 Prozent) Europas auf. Besonders erbittert waren die Ungarn über die geplante Reform des Gesundheitswesens, die ihnen eine (eher symbolische) Beteiligung an Arzt- und Krankenhauskosten abverlangte. Das nutzte der oppositionelle Fidesz für ein Referendum, das die Regierung im März mit über 80 Prozent Gegenstimmen verlor. Premier Gyurcsany entließ die liberale Gesundheitsministerin Agnes Horvath, die er als Hauptschuldige der Regierungsschlappe ansah. Das empfanden die Liberalen unter Janos Koka als „unwürdig und unanständig“, weswegen sie alle ihre Minister und Staatssekretäre aus der Regierung zurückzogen. Ungarns Krise war in jeder Hinsicht vollkommen, auch in ihren grotesken Umständen: Die „linke“ Regierung scheitert an marktwirtschaftlichen Reformen, die rechte Opposition mobilisiert Volkszorn mit dem Ruf nach dem allmächtigen Vater Staat, die Liberalen lösen eine Regierungskrise aus, fürchten aber, bei eventuellen Neuwahlen die Fünf-Prozenthürde nicht nehmen zu können. Darum werden ihre Minister bis zum 30. April weiter arbeiten, und sollte die Koalition bis dann nicht repariert sein, werden sie die Regierung „von außen“ unterstützen. Das befähigt Gyurcsany, mit einer Minderheitsregierung weitermachen zu können, zumal auch der oppositionelle Fidesz wegen interner Streitigkeiten seine Forderung nach Neuwahlen gedämpft hat.

Ungarn zahlt den Preis der marktwirtschaftlichen Wende – sehr verspätet und darum bis zur „Stagflation“ verteuert: Entwick-lungsstagnation, Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und horrende Steuerbelastung. Zahlreiche Unternehmen haben ultimativ gedroht, ihre Sitze ins steuergünstigere Ausland zu verlegen, falls sich bis 2009 die Lage nicht grundlegend ändert. Das kann sie kaum,  und folglich drohen dem Land sinkendes Wachstum, rückläufige Wettbewerbsfähigkeit, noch höhere Arbeitslosigkeit und eskalierende soziale Spannungen. Unruhen sind bereits an der Tagesordnung, bevorzugt bei „nationalen“ Anlässen und Staatsfeiertagen rottet sich der Mob der „Wendeverlierer“ zusammen und revoltiert mit Gewalt sowie chauvinistischen und antisemitischen Parolen gegen die Regierung. Dazu ermutigt hat sie Fidesz-Führer Orban, der sich in seiner Amtszeit als Regierungschef (1998–2002) gern „Premier von 20 Millionen Ungarn“ nannte. Ungarn hat zehn Millionen Einwohner, weitere große Gruppen Ungarn leben in Rumänien (1,7 Millionen), der Slowakei (530000), der serbischen Vojvodina (300000) und anderen Regionen, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum „Königreich Ungarn“ gehörten. Dieses wurde am 4. Juni 1920 durch den Friedensvertrag von Trianon zerschlagen, wobei Ungarn über zwei Drittel „seines“ Territoriums verlor. Administrativ bestand das Königreich aus 64 „Komitaten“, von denen seit 1920 20 slowakisches und 24 rumänisches Territorium sind. Die Ungarn betrachten Trianon bis heute als die größte Ungerechtigkeit ihrer Geschichte, und in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen schießt ungarischer Chauvinismus ins Kraut. Wortführer ist „64 Varmegye Ifjusagi Mozgalom“ – „Jugendbewegung 64 Komitate“, die unter Führung von Laszlo Torockai die Widerherstellung eines historischen „Groß-Ungarns“ fordert. Torockai hat nur radikalisiert, was Orban 2001 mit seinem „Statusgesetz“ für Diaspora-Ungarn bezweckte: Die „grenzüberschreitende Wiedervereinigung der ungarischen Nation“. Die Slowakei und Rumänien betrachteten das Gesetz als massive Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, auch die EU äußerte damals eindeutigen Widerspruch. Wie es in Ungarn derzeit aussieht, werden seine Nachbarn und seine EU-Partner bald neuen Anlaß zu ungarischen Sorgen haben.


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