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12.04.08 / Wenn in Venedig Sirenen heulen / Warum die Stadt sich nicht nur mit Hochwasser, sondern auch mit Niedrigwasser plagt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-08 vom 12. April 2008

Wenn in Venedig Sirenen heulen
Warum die Stadt sich nicht nur mit Hochwasser, sondern auch mit Niedrigwasser plagt
von Sophia E. Gerber

Mehrmals im Jahr ertönen in Venedig die Sirenen. Vor allem im Winter überschwemmt das Adriahochwasser die Lagunenstadt. Der Wasserspiegel steigt dann mehr als 80 Zentimeter über den Normalstand. Der Rekordpegel von 194 Zentimeter im November 1966 überflutete beinahe die gesamte Stadt. Wenn der Alarm erklingt, heißt es für Einheimische und Touristen: Gummistiefel herausholen und sich als Seilakrobaten bewähren. Denn um trockenen Fußes von A nach B zu gelangen, muß man über die eigens aufgestellten Holzstege, die passerelle, balancieren. Im Laufe der Jahrhunderte ist das acqua alta für die Venezianer zur Routine geworden. Doch in den vergangenen Jahren haben Häufigkeit und Intensität der Hochwasser deutlich zugenommen. Die vielen Überschwemmungen spülen den Mörtel aus den Fugen und nagen an den Fundamenten der Palazzi und Kirchen. Viel schneller als früher werden die Gebäude baufällig.

Die Ursachen für diese dramatische Entwicklung sind teils natürlich, teils hausgemacht. Zu den natürlichen Faktoren zählen erstens die allgemeine Klimaerwärmung und der damit verbundene Meeresspiegelanstieg. Zweitens drückt der Saharawind Scirocco, der von Süden nach Norden weht, Meereswasser ins Innere der Lagune. Drittens trägt die Erosion der auf dem Meeresgrund liegenden Sandwälle zum stetigen Landverlust bei. Menschenverursacht sind hingegen die Folgen der Grundwasserabpumpung durch die umliegende Industrie in den 1950er und 1960er Jahren. Die Stadtfundamente sanken dadurch um mehr als 20 Zentimeter ab.

Die Schiffahrt, die seit dem 19. Jahrhundert expandiert, verschärft die Situation zusätzlich. Durch die vertieften Kanäle und die verbreiterten Hafeneinfahrten für die riesigen Kreuzfahrtdampfer und Containerschiffe fließt das Wasser ungebremst in die Lagune. Es kommt häufiger zu Überflutungen. Ferner stellen die Fischer der ertragsreichen Philippinischen Venusmuschel ein Problem dar. Indem sie mit ihren eisernen Fangkörben den Lagunenboden aufreißen und dabei den Pflanzenbewuchs zerstören, beschleunigen sie den Materialverlust.

Jetzt soll ,MOSE‘ (experimentelles elektromechanisches Modul) die Fluten teilen und Venedig vor dem Untergang bewahren. Das seit Ende 2004 in Bau befindliche Projekt ist ein Vorhaben biblischen Ausmaßes. 79 Schleusentore, eingebettet auf dem Meeresgrund vor der Stadt, sollen sich bei Hochwasser automatisch durch Druckluft aufrichten. Das Dammsystem schottet die Lagune an drei Eingängen vom Meer ab und versperrt somit den Wellen der Adria den Weg. Fünf bis sechs Milliarden Euro kostet der Bau, dessen Fertigstellung 2014 vorgesehen ist. Viele venezianische Hoteliers und Geschäftsleute befürworten das Vorhaben. Sie spekulieren auf zusätzliche Einnahmen, da das Hochwasser gewöhnlich über Wochen die Touristen aus der Stadt fernhält.

Klimaforscher, Geologen und Umweltschützer kritisieren hingegen das Projekt. Sie befürchten, die Schutzwälle behindern den natürlichen Wasseraustausch und die Selbstreinigung der Kanäle. Die Wasserverschmutzung gefährde Flora und Fauna. Schlimmer noch: Laut wissenschaftlicher Prognosen steigt der Meeresspiegel in den kommenden 50 Jahren um weitere 50 Zentimeter. In diesem Fall müßten die Deiche nicht wie bisher berechnet achtmal, sondern 100mal im Jahr geschlossen werden. Italiens größtes Feuchtbiotop würde sich in einen fauligen Morast verwandeln. Neben den irreversiblen Folgen für das Ökosystem bemängeln Kritiker, daß die Laguneneinfahrten zur Verankerung der Barrieren weiter ausgebaggert werden müssen. Dies erhöhe sogar den Meereszufluß, statt ihn zu verringern. Außerdem sei noch unsicher, ob die Schleusentore auch Sturmfluten standhalten. Schließlich sei die Überwachung der Anlage unter Wasser äußerst kostspielig und aufwendig. Umweltdezernent Paolo Cacciari wendet gegen das Projekt ein: Es halte zwar die Hochwasser zurück, beseitige aber nicht deren Ursachen. Stattdessen plädiert Cacciari dafür, die Lagune zu renaturalisieren, ihre Öffnungen zu verkleinern und den Meeresspiegel wieder auf das Niveau des 19. Jahrhunderts zu senken.

Im Februar betraf Venedig allerdings ein ganz anderes Phänomen: acqua bassa, Niedrigwasser. Der Wasserpegel in der Lagunenstadt sank bei Ebbe tagelang so stark ab, daß der Schiffsverkehr in vielen Kanälen zum Erliegen kam. Bei einem Tiefststand von 80 Zentimeter unter normal war zeitweise nur noch der Canal Grande befahrbar. Sämtlicher Personen- und Güterverkehr, einschließlich Post, Polizei, Ambulanz und Feuerwehr, waren beeinträchtigt. Ursache des Spektakels waren außergewöhnliche Wetterbedingungen: Hochdruck über Italien verbunden mit einer Neumondphase sowie besondere Windverhältnisse. Die römische Zeitung „La Repubblica“ verglich das auf dem Trockenen liegende Venedig mit einer alten Dame, die ihre Schminke verliert. Denn plötzlich traten so einige Runzeln der Serenissima zutage, etwa eine alte Waschmaschine und sonstiger Unrat, die bisher unter dem Wasserspiegel verborgen geblieben waren. Die ungeschminkte Wahrheit beleidigte jedoch nicht nur die Augen, sondern auch die Nasen vieler Venezianer.

Allzu oft prophezeite man der Stadt ihren Untergang. Doch sie gewann immer wieder Oberwasser. Schon Goethe schrieb dazu 1829 in seiner „Italienischen Reise“: „Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben …, so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Dasein hat.“

Foto: Venedig: Selbst Hochwasser kann die Venezianer nicht erschüttern.


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