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12.04.08 / Die dunkle Seite der Spaßgesellschaft / Trotz allgemeinen Wohlstands breiten sich Depressionen immer mehr aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-08 vom 12. April 2008

Die dunkle Seite der Spaßgesellschaft
Trotz allgemeinen Wohlstands breiten sich Depressionen immer mehr aus
von Haiko Prengel

Nichts interessiert die Deutschen mehr als ihr Gemütszustand. „Wie geht es?“ – so lautet die geläufige Frage am Anfang jeder Unterhaltung. Wer mit „Schlecht“ antwortet, stößt allerdings häufig auf Unverständnis: „Traurigkeit und schlechte Stimmung sind in unserer modernen Spaßgesellschaft nicht gern gesehen und werden lieber verschwiegen“, sagt Morad Ghaemi, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Bergheim bei Köln. Das bedeutet freilich nicht, daß diese negativen Gefühle in Zeiten von allgemeinem Wohlstand nicht mehr da wären – im Gegenteil. Experten wie Ghaemi beobachten, daß psychische Erkrankungen sich immer mehr ausbreiten. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts durchleben in Deutschland 15 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer innerhalb eines Jahres eine depressive Phase.

Ein besonders häufiger Auslöser ist Streß im Beruf. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und gesteigerte Anforderungen wie hohe Flexibilität und Mobilität setzen viele Arbeitnehmer unter so massiven Leistungsdruck, daß sie irgendwann seelisch krank werden. Laut Bundesgesundheitsministerium zählen psychische Erkrankungen inzwischen zu den Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung – und dies, obwohl die Zahl der Krankschreibungen insgesamt zurückgeht: „Man kann dort in der Tat einen allgemeinen Rückzug verzeichnen – bei zeitgleich höherem Anteil psychischer Ursachen“, erläutert Ghaemi.

Gleichwohl ist Streß im Beruf nicht der alleinige Grund für die Entwicklung einer manifesten Depression. „Überforderung oder Mobbing im Job kann den Ausbruch allenfalls triggern, also auslösen“, sagt der Facharzt. In der Regel haben depressive Menschen nämlich auch noch in anderen Bereichen Probleme. Sie haben in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht oder ein anstrengendes Familienleben in der Gegenwart. Ehekrach, Scheidung, Patchwork, Single-Dasein – solche Zustände gehören heute für viele Menschen zum Alltag. „Dabei ist ein intaktes soziales Umfeld sehr wichtig für eine stabile Psyche“, betont Ghaemi.

Die moderne, liberale Gesellschaft hat also offenbar auch ihre Schattenseiten. Weil der einzelne an dieser Grundkonstellation aber kaum etwas ändern kann, raten Experten, am individuellen Lebenswandel, also im kleinen anzusetzen. „Man sollte seine Möglichkeiten und Grenzen auch im Beruf akzeptieren und nicht erwarten, daß man jeden Leistungsanspruch erfüllen muß“, sagt Gerhard Bien, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Köln. Darüber hinaus sei es wichtig, sich persönliche Freiräume jenseits des Berufs- und Familientrubels zu schaffen und diese zu verteidigen. Das kann eine Sportart sein, eine Freundschaft, die man regelmäßig pflegt, oder ein bestimmtes Hobby.

Statt dessen griffen viele jedoch lieber zu Alkohol oder zu Beruhigungsmitteln, um kurzfristig und möglichst ohne großen Aufwand herunterzufahren. „Vor allem Männer neigen bei psychischen Problemen dazu“, sagt Bien. Häufig halten sie durch solche Verdrängungsstrategien die Probleme unter der Oberfläche und sitzen deshalb insgesamt auch seltener beim Psychotherapeuten als Frauen. Dafür reagieren sie dann früher oder später aber häufig mit anderen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Herzinfarkt.

Eine Depression eindeutig zu erkennen ist manchmal selbst für Ärzte nicht einfach – und für den Laien noch weniger. „Anders als beispielsweise bei einem gebrochenen Arm sind viele seelische Leiden und vor allem Depressionen von einem fließenden Übergang zwischen normal und krank gekennzeichnet, die Kriterien dafür sind nicht immer einfach zu ermitteln“, sagt Psychiater Ghaemi. Aber es gibt Anzeichen, bei denen man sich professionelle Hilfe holen sollte: Schwere Antriebslosigkeit und Schlafstörungen, schwermütige Gedanken und ein Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit gehören dazu. Darüber hinaus werden Depressionen häufig von körperlichen Symptomen wie beispielsweise Schluckstörungen, Zittern oder Magenschmerzen begleitet.

„Man sollte nicht zögern, zum Arzt zu gehen, wenn man Derartiges an sich bemerkt“, rät Psychiater Bien. Sowohl die medikamentösen als auch die psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten von Depressionen seien in den vergangenen Jahren erheblich verbessert worden. Wochenlange stationäre Aufenthalte sind nur noch in schweren Fällen notwendig. Meist führen schon ambulante Therapien zum Erfolg, während berufliche und Freizeitaktivitäten parallel weiterlaufen können. Die Medikamente indes sind deutlich besser verträglich, die Nebenwirkungen in der Regel moderat. „Wichtig ist, daß man konsequent bleibt und auch eine länger angelegte Behandlung durchhält – dann sind die Heilungschancen gut“, so Bien.

 

Oft unerkannt, aber behandelbar – Depression im Alter

Rund vier Millionen Menschen hierzulande sind nach Angaben des „Kompetenznetzes Depression“ behandlungsbedürftig. „Doch nur ein Drittel der Betroffenen sucht medizinische Hilfe, und nur zehn Prozent von ihnen erhalten letztlich eine ausreichende Behandlung“, sagt Ulrich Hegerl, Professor für Psychiatrie an der Uni Leipzig und Sprecher des Kompetenznetzes. Wenn Betroffene mittleren Alters und Ärzte die Symptome schon nicht richtig einschätzen, um wieviel schwerer muß es da erst die Senioren treffen? Denn allzu häufig wird mangelnde Energie und Hoffnungslosigkeit bei betagten Menschen mit dem natürlichen Alterungsprozeß erklärt. „Zu wenig Betroffene und zu wenig Menschen in ihrer Umgebung erkennen hinter körperlichen und psychischen Beschwerden eine depressive Erkrankung“, sagt Hegerl. Damit bleibe eine angemessene Therapie aus, obwohl Depressionen heute gut behandelbar seien.

Da Menschen, die aufgrund ihres körperlichen und seelischen Gesundheitszustandes in Alten- und Pflegeeinrichtungen leben, ein höheres Risiko einer Depression haben und weil die Vielfalt der Beschwerden die Diagnostik erschwert, ist der Weg in die soziale Isolation, zu Folgekrankheiten und möglicherweise zum Suizid vorgezeichnet. „Neben der Demenz gehört die Depression zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Alter. Parallel dazu steigt, besonders bei älteren Männern, das Suizidrisiko exponentiell an. Zehn bis 15 Prozent der über 65jährigen leiden an Depressionen und in Alters- und Pflegeheimen sogar 30 bis 40 Prozent“, berichtet Anja Ziervogel, Expertin für Alterspsychologie an der LMU München. Verstärkt hat sie in den vergangenen Jahren Ärzte, Altenpflegekräfte und Senioren mit Vorträgen und Seminaren zu sensibilisieren versucht. Vor allem die Altenpflegekräfte standen im Fokus der Aufklärungsbemühungen, um sie mit den für die Altersdepression typischen Symptomen vertraut und zu Vermittlern zwischen Bewohner, Arzt und Angehörigem zu machen. Inzwischen sieht Anja Ziervogel zwar einige positive Entwicklungen, aber auch veränderungsbedürftige Zustände. „Wir beobachten zum Beispiel, daß immer mehr Ärzte statt Schlafmitteln Antidepressiva verschreiben, auch Hausärzte. Offenbar ist hier bereits ein Sinneswandel eingetreten“, sagt sie. Umgekehrt aber haben Senioren häufig immer noch die Vorstellung, daß Alter gleich Depression sei. Zur Behandlung gehört auch die psychosoziale Betreuung. Aufgrund der Zeitnot in Pflegeeinrichtungen wird diesem Bedürfnis jedoch nicht immer Rechnung getragen. Und schließlich wissen die wenigsten Senioren auch, daß Depression eine meist behandelbare Krankheit ist und kein landläufig als Verrücktheit bezeichneter Zustand. Aufklärung und Sensibilisierung sind notwendig, denn die Lebenserwartung steigt kontinuierlich an. Oft haben Menschen im Alter von 65 Jahren noch ein ganzes Drittel ihres Lebens vor sich. Und obwohl die Beschwerden zunehmen, behalten viele von ihnen noch die Fähigkeit, ihr Leben interessant und selbständig zu gestalten. Rosemarie Kappler

Foto: Einsamkeit im Alter: Viele Faktoren können zu Depressionen führen.


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