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19.04.08 / Auf ewig ungesühnt? / Spannender Roman über einen Mord im Spanischen Bürgerkrieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-08 vom 19. April 2008

Auf ewig ungesühnt?
Spannender Roman über einen Mord im Spanischen Bürgerkrieg

In der katalanischen Bergwelt des Pellars liegt das Dorf Torena nahe einem kleinen Fluß, der in den Pyrenäen entspringt und in den Ebro mündet. Es ist der Hauptschauplatz einer Geschichte, wie sie dramatischer und spannender kaum vorstellbar ist. Sie beginnt 1937 während des Spanischen Bürgerkrieges, ihre Fortsetzung fällt in das Jahr 1944. Es ist das zentrale Geschehen des Romans „Die Stimmen des Flusses“ von Jaume Cabré. Gerade in dieser Region wirkten die Ereignisse der Bürgerkriegsjahre noch in den 40er Jahren nach. Längst besaß die Franco-Partei der Falangisten die unumschränkte Macht in Spanien, doch weiterhin wurden alte Rechnungen beglichen. Im Untergrund operierten die politischen Gegner aller Couleur, die sich in den Bergen versteckt hielten. 

Innerhalb von sechs Jahren schrieb der 1947 geborene Autor das 670 Seiten umfassende Werk. Es erschien 2004 in Barcelona und gilt als wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der frühen Franco-Ära, die erst 1971 zu Ende ging. Nach seinem herausragenden Erfolg in Spanien ist der Roman inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.

Erst nach und nach erschließen sich dem Leser die Zusammenhänge der Handlung. Bald aber gewöhnt man sich an Vor- und Rück-blenden und an übergangslose Orts- und Szenenwechsel, da Jaume Cabré diese Stilmittel meisterlich anwendet. Mehr als 30 Personen treten in Erscheinung. Die eine der beiden zentralen Figuren des Buches ist die schöne, aber berechnende Elysenda Vilabrú aus der Großgrundbesitzerfamilie in Torena. Ihr Leben wird einerseits von Besitzgier, andererseits von Rachsucht bestimmt, seitdem die Anarchisten ihren Vater und ihren Bruder brutal ermordet haben. Der einflußreichen Elysenda sind mehrere Männer aus ihrem Umkreis bedingungslos ergeben. Sie benutzt sie wie Schachfiguren, um ihre Ziele zu verfolgen.

Dann verliebt sie sich in Oriol Fontelles, den Lehrer. Dieser, die zweite Hauptfigur des Romans, kommt 1943 nach Torena. Bald schon gerät er in eine Zwangslage. Ein tiefer Riß geht durch das Dorf, ein Mord geschieht. Kann Oriol angesichts des ungesühnten Verbrechens eine neutrale Haltung bewahren? Manche Leute verachten ihn, auch seine Frau hält ihn für feige und verläßt ihn. Endlich begreift er, welches Spiel hier gespielt wird und welches sein Part dabei sein wird. „Als er vor dem großen Mann saß, verstand er, daß, wer einmal Herr der Lage ist, immer Herr der Lage ist und daß er, wenn es ihm gelänge, Herr der Lage zu sein, nichts mehr fürchten mußte. Oder fast nichts.“ 

2002, fast 60 Jahre später, macht die Lehrerin Tina Bros aus dem benachbarten Städtchen Sort in der leerstehenden Schule von Torena eine Entdeckung. Als Hobbyfotografin erkundet sie das Gebäude, das abgerissen werden soll. Dabei findet sie hinter der Schiefertafel alte Aufzeichnungen, die dort offenbar versteckt wurden. Es sind Briefe aus dem Jahr 1944, geschrieben von Oriol Fontelles an seine Tochter, die er, wie er ahnte, niemals kennenlernen sollte. Der letzte Brief datiert vom 18. Ok-

tober 1944. Was geschah an jenem Tag? Obwohl Tina Bros selbst in einer persönlichen Krise steckt, begibt sie sich auf Spurensuche, um dieses Rätsel zu lösen. Auch will sie unbedingt die Adressatin jener alten Briefe finden. Sie trifft sich mit Zeitzeugen, darunter die inzwischen über 80jährige, erblindete Elysenda. Gemeinsam mit ihrem Sohn, der sie an seelischer Kälte noch übertrumpft, hat sie im Laufe von Jahrzehnten ein weltweit bedeutendes Unternehmen für Wintersportartikel aufgebaut. Bei ihren Recherchen erfährt die Lehrerin, daß im Vatikan die Seligsprechung des Lehrers Oriol Fontelles bevorsteht. Er gilt als Märtyrer der katholischen Kirche. Betreiberin des jahrzehntelangen Verfahrens der Seligsprechung ist niemand anderes als Elysenda Vilabrú. Es kommt zu einem Wettlauf mit der Zeit.    Dagmar Jestrzemski

Jaume Cabré: „Die Stimmen des Flusses“, Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007, geb., 666 Seiten, 22,80 Euro


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