26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.04.08 / Schneewittchen / Ein wirklich seltsamer nächtlicher Besuch

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-08 vom 19. April 2008

Schneewittchen
Ein wirklich seltsamer nächtlicher Besuch
von Willi Wegner

Es ist nicht zu glauben! Falls sie heute nacht wiederkommen sollte, rufe ich die Polizei an. Sie kommt immer so fünf vor zwölf, und fünf nach zwölf verschwindet sie wieder. Sie steht in meinem Vorgarten zwischen dem Rhododendron und der Zwergkiefer und kämmt sich ihr Haar. Sie hat ein langes weißes Kleid an und sieht aus wie Schneewittchen. Ich sitze dann immer am Fenster, trinke einen Kognak nach dem anderen und kann es einfach nicht begreifen. Bestimmt kommt sie auch heute nacht. Es ist sechs Minuten vor zwölf...

Bitte, da ist sie schon!

Ich wage mich kaum zu rühren. Bis auf die Bewegungen, die erforderlich sind, um den Kognak einzuschenken, bin ich wie gelähmt. Sie sieht aus wie immer. Jung und schwarzhaarig. Sie steht mitten im Mondschein und kämmt sich. Ein Phänomen!

Also trinke ich noch einen Kognak und rufe die Polizei an. „Bei mir steht ein Mädchen im Vorgarten“, sage ich. „Sie kommt fast jede Nacht. Sie steht zwischen dem Rhododendron und der Zwergkiefer und kämmt sich ihr Haar. Sie ist jung und schwarzhaarig, so eine Art Schneewittchen, wissen Sie...“

Die Polizei räuspert sich. Dann fragt sie: „Sie meinen dieses Mädchen da aus dem Märchen?“

„Ja“, sage ich, „genau das! Sie ist sehr hübsch, aber ich ertrage es nicht länger. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Polizei der Sache einmal auf den Grund ginge.“

„Also, das halten wir aber für ausgeschlossen“, sagt die Polizei, „daß sich Schneewittchen zu so später Stunde noch das Haar kämmt... und dann ausgerechnet in Ihrem Garten... Vielleicht ist es doch besser, Sie rufen mal Ihren Arzt an.“

„Meinen Arzt? Der ist verreist.“

„Das verstehen wir aber nicht“, sagt die Polizei, „wie ein Arzt, der solche Patienten hat wie Sie, verreisen kann.“

„Er ist zur Kur“, erwidere ich. „Es geht ihm nicht gut.“

„Na schön“, sagt die Polizei, „wir möchten nicht, daß Sie uns für unhöflich halten. Wir schicken einen Streifenwagen vorbei.“

Ich nenne meine Adresse, bedanke mich, lege auf, trinke noch einen Kognak und warte.

Kurz nach zwölf kommt die Polizei mit Martinshorn und Blaulicht. Das ist natürlich sehr unklug. Auf diese Art und Weise geht man nicht auf ein Phänomen los. Kein Wunder, daß die beiden Polizisten, als sie mit ihren Taschenlampen den Garten ableuchten, nichts finden. Dann kommen sie herein, und der eine sagt: „Soso, eine Art Schneewittchen?“

„Jawohl“, erwidere ich, „sie kommt mindestens jede zweite Nacht, steht zwischen dem Rhododendron und der Zwergkiefer und kämmt sich ihr Haar.“

„Na ja“, sagt der Polizist, „aber gesehen haben wir sie nicht, und wir hätten sie wirklich sehr gern gesehen. Man sieht so etwas nicht alle Tage, vor allem nicht in unserem Beruf.“

„Wenn Sie mit solch einem Lärm daherkommen“, sage ich, „ist es ja kein Wunder.“

Der andere Polizist kratzt sich am Kinn, tut sehr nachdenklich und sagt, mehr zu seinem Kollegen: „Ich glaube, ich hab’s... Denk mal an die Gartenzwerge. Der ganze Garten wimmelt von Zwergen...“

„Gartenzwerge“, unterbreche ich ihn, „sind mein Hobby.“

„Na bitte!“ sagt der Polizist. „Schneewittchen und die sieben Zwerge! Ganz klarer Fall! Die Zwerge sind da, Schneewittchen aber haben Sie sich nur eingebildet.“

„Daran kann es gewiß nicht liegen“, sage ich, „denn sehen Sie, im Märchen sind es sieben Zwerge, aber ich habe nur sechs.“

„Ganz wie Sie meinen!“ sagt der Polizist. „Wir wollen Ihnen nicht widersprechen. Wir sind Ihr Freund und Helfer. Deshalb geben wir Ihnen einen guten Rat: Wechseln Sie Ihr Hobby.“

Der andere Polizist sagt: „Oder Ihre Kognakmarke!“

Dann gehen sie.

Was soll man dazu sagen? In den kritischen Situationen des Lebens ist der Mensch immer allein.

Eines allerdings gibt mir zu denken: Wieso hat sie sich ihr Haar gekämmt? Vielleicht war es gar nicht Schneewittchen. Vielleicht war es die Loreley...


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren