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10.05.08 / Schöne Kindheitstage / »Godrienen! Wer kannte schon Godrienen!«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-08 vom 10. Mai 2008

Schöne Kindheitstage
»Godrienen! Wer kannte schon Godrienen!«
von Marlies Stern

Der Personenzug fuhr jetzt langsamer, ein paar Häuser – hier und dort verstreut – kamen in Sicht. Das kleine Mädchen stand von ihrem Platz auf, nahm ihren Tornister von der Sitzbank und hängte ihn sich um. „Auf Wiedersehen“, sagte es zu den beiden älteren Damen, die mit im Abteil saßen, „und Dankeschön.“ Sie waren gemeinsam auf dem Hauptbahnhof der Hauptstadt Königsberg eingestiegen. Das kleine Mädchen war in Königsberg gewesen, wo Tante Erna, Muttis Schwester, Pfefferkuchen gebacken hatte, die jetzt, noch warm, wohl verwahrt im Tornister steck­ten. Tante Erna und Kusine Gisela hatten das kleine Mädchen zum Bahnhof begleitet. Tante Erna hatte sie in ein Abteil zu den beiden Damen gesetzt und darum gebeten, „ein wenig auf meine Nichte aufzupassen“. So hatte man den kurzen Weg lang miteinander geredet, oder besser, die beiden Damen wollten allerhand wissen. „Gehst du schon in die Schule? Wie gefällt es dir in der Schule? Hast du noch Geschwister? Was hast du denn in Königsberg gemacht? Du fährst ganz alleine bis nach Königsberg?“ Und viele andere Fragen mehr. Am liebsten hätte sich das kleine Mädchen in eine Ecke verkrochen und vor sich hergepfiffen – was sie zu gerne tat. Und sie konnte es auch noch sehr gut dazu. Opa Kluke sagte dann: „Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, den muß man beizeiten den Kopf umdrehen.“ Und er sagte es im allerschönsten Platt. Aber widerwillig hörte sie den beiden Damen zu und gab einsilbige Antworten. Wie froh war sie daher, als die Landschaft immer bekannter wurde. Endlich konnte sie aussteigen. „Godrienen!“ glaubte sie den Bahnhofsvorsteher rufen zu hören. „Godrienen!“

Als das kleine Mädchen auf die Abteiltür zuging, wurde sie von den Damen zurückgehalten. „Halt, wo willst du hin. Hier ist noch keine Bahnstation. Der Bahnhof ist nicht hier – man sieht ja nicht einmal ein Gebäude.“ „Doch“, sagte das kleine Mädchen sicher, „ich bin jetzt zu Hause. Hier ist Godrienen und der Bahnhofsvorsteher wartet auf mich.“ „Nein, nein. Hier ist kein Bahnhof. Du kannst nicht aussteigen. Sicher hält der Zug, weil er keine Durchfahrt hat.“

Da – ein Pfiff, und der Zug zog wieder an. Draußen, auf dem schmalen Bahnsteig stand der Bahnhofsvorsteher und sah mit großen Augen in das Abteil, an dessen Tür das kleine Mädchen stand. Tränen hatte sie jetzt in den Augen – aber nun war es zu spät. Jetzt erkannten auch die beiden Damen, daß sie soeben in Godrienen gehalten hatten und das kleine Mädchen hätte aussteigen müssen. „Es tut uns leid“, sagten sie. „Es tut uns wirklich leid. Aber es war kein Bahnhof zu erkennen, und wir hatten doch deiner Tante versprochen auf dich aufzupassen.“ Das kleine Mädchen gab keine Antwort.

Wieder hielt der Zug. „Seepothen!“ rief der Bahnhofsvorsteher. Schnell machte das kleine Mädchen die Tür auf und sprang aus dem Abteil, ohne die beiden Damen auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Der Bahnhofsvorsteher kam auf das kleine Mädchen zu, nahm es bei der Hand und führte es in das kleine Bahnhofsgebäude. Von der Station Godrienen hatte man schon angerufen und gemeldet, daß das kleine Mädchen in Seepothen aussteigen würde. In wenigen Minuten kam der Gegenzug nach Königsberg, und das kleine Mädchen würde die eine Station nach Godrienen wieder zurück­fahren können.

Godrienen! Wer kannte schon Godrienen!

Ein kleines Dorf, zwei Bahnstationen von der Hauptstadt Königsberg entfernt. Ein kleines Dorf mit einer Volksschule, in der das kleine Mädchen angefangen hatte, Lesen und Schreiben zu lernen. Es gab einen Krug Skaliks und einen Kaufmann Grünheit. „Geh’ mal Stecknadelsamen kaufen“, sagte einmal scherzhaft Opa Priess zu dem kleinen Mädchen. Und einen Bäcker gab es, Margenberg, der köstliche „Amerikaner“ backte und „Gründonnerstag-Kringel“. Nur waren diese Kringel nie grün, sondern dick mit Hagelzucker bestreut. Und bei den Bauern des Dorfes, zum Beispiel beim Bauern Gerdes, konnte man frischgemolkene Milch kaufen.

Das kleine Mädchen wohnte mit seinen Eltern in einem Haus der Eisenbahn, weil sein Vater in Königsberg bei der Eisenbahn beschäftigt war. Oft fuhr es mit der Mutter in die große Stadt Königsberg, um Verwandte zu besuchen. Aber viel lieber kamen die Tanten mit ihren mehr oder weniger gleichaltrigen Kindern nach Godrienen. In dem großen Garten hinter dem Haus konnte man sich so richtig austoben. Cousin Ottfried, immer zu Streichen aufgelegt, mußte einmal mit Hilfe von Cousin Siegfried ausprobieren, wie es wohl sei, wenn man Cousine Gisela unter der Pumpe festhielte und den Pumpenschwengel kräftig betätigte! Oder sie aber gar in den Kaninchenstall sperrte! Und das kleine Mädchen wollte gar nicht verstehen, was nun so entsetzlich daran war, daß sie mit dem hübschen Sonntagskleid angetan in dem Ruß des frischangelieferten Kohlenberges spielte – wo doch gleich die strenge Großmutter aus der Stadt kam!

Der Winter kam mit seiner ganzen Strenge. Vater hatte im Garten einen hohen Berg Schnee zusammengeschaufelt, und das kleine Mädchen konnte dort mit dem neuen Schlitten herunterrutschen. Und ein großer Schneemann wurde gebaut. Oder man vergnügte sich auf dem winzigen Dorfteich. Die größeren Buben hatten sich Pickel gemacht, mit denen sie sich auf den Schlitten fortbewegten. In der Schule ermahnte die Lehrerin Fräulein Marx die Kinder nach Ende der Schulstunde, die Mäntel richtig zuzuknöpfen und den dicken Schal vor das Gesicht zu binden, die Handschuhe nicht zu vergessen und die Mütze über die Ohren zu ziehen. So vermummelt verließen die Kinder die Schule. Aber nach wenigen Schritten zog das kleine Mädchen sich den Schal vom Gesicht, vergrub die Hände in die Manteltaschen und ging, vor sich hinpfeifend, nach Hause. Natürlich sah es Fräulein Marx und berichtete es sofort der Mutter. Zu Hause aber saß man abends am warmen Kachelofen, und es gab heißen Kakao und Käsebrötchen.


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