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17.05.08 / Befreiende Technologie in Fesseln / Während immer mehr Osteuropäer das Internet nutzen, wird es vom Kreml blockiert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-08 vom 17. Mai 2008

Befreiende Technologie in Fesseln
Während immer mehr Osteuropäer das Internet nutzen, wird es vom Kreml blockiert
von Wolf Oschlies

Es war ganz natürlich, daß der Zusammenbruch des Kommunismus und der Aufbruch des Internets eingangs der 1990er Jahre zusammenfielen. Der Neostalinismus stand dem Informationszeitalter hilflos gegenüber, sein Sturz war unausweichlich. Heute, im 18. postkommunistischen Jahr, hat sich im Osten eine informationelle Dreiklassengesellschaft etabliert. Auf altstalinistische Abschottung setzt China, wo tagtäglich 30000 Zensoren mit modernster Filtertechnik, für teures Geld in den USA gekauft, im Internet unliebsame Themen blockieren und die Internetnutzer kontrollieren. Weit besser, jedoch nicht gut ist die Lage in Rußland: Zwar kann man zu Zeiten der Globalisierung nicht auf moderne Kommunikationstechnologie verzichten, zumal deren Nutzung gutes Geld einbringt, aber politisch eigenständiger Gebrauch des Internets soll eingeschränkt werden. Während Ost- und Südosteuropa Gleichschritt zum Westen aufnehmen, probt Rußland die Rolle rückwärts. Im Januar 1990 entstand mit US-Hilfe „Glasnet“ (Akronym aus „Glasnost“ und „Internet“), das den Russen weltweite Informationsquellen eröffnen sollte.

Tatsächlich weckte es Mißtrauen. „Glasnet“-Chef Anatolij Woronow beklagte bereits 1996 die amerikanische „Hegemonie“ im Internet, die Russen dazu zwänge, dieses auf englisch oder gar nicht zu nutzen. Das war zwar eine Dummheit, aber doch signifikant für die russische Einstellung zum Internet. Ab 1994 wurde es zum „Ru(ßland)Net“ russifiziert. Ein solches „Ethnonet“ gibt es weltweit nirgendwo, auch die Russen selber können letztlich nicht erklären, was sie eigentlich wollen: Technik und Formate kommen aus dem Westen, so daß jeder Versuch versandet, das Internet russischer „Identität“ dienstbar zu machen. 2004 ermittelte das angesehene „Levada“-Zentrum, daß Russen eine wachsende „Nostalgie“ nach einem „monolithischen Staat“ à la Sowjetunion spüren. Das zeigt sich gerade am „Runet“, das sich vom globalen Internet nur durch die Art seiner Nutzung unterscheidet. Ganze 15 Prozent der Bevölkerung nutzen das Internet, und wie sie es nutzen, kommt Putins restriktiver Medienpolitik entgegen. Das im Januar 2002 gestartete Regierungsprogramm „Elektronisches Rußland“ hat bereits im ersten Jahr „2600 Punkte des kollektiven Internetzugangs“ geschaffen, die sich leicht kontrollieren lassen und dennoch guten Profit abwerfen. Private Internetnutzung ist teuer, wie 2003 in Moskau zu beobachten war: Kinder vergnügten sich in Internet-Cafés mit Videospielen „für einen Dollar (!) pro Stunde“, Studenten der Moskauer Staatsuniversität mußten gar zwei Dollar zahlen, wenn sie im Internet recherchierten. Für Institutionen und Redaktionen verliert das Internet an Reiz, für Einkauf, Internet-Banking etc. haben es Russen kaum jemals genutzt. 78 Prozent aller russische Wissenschaftler räumten schon 1998 in Umfragen ein, daß sie mehr von der internationalen Wissenschaft als diese von ihnen profitierten und daß das Internet die Brücke zur gelehrten Welt sei – was „unser Runet“ nicht wahrhaben will und auf seinen Websites ausspart.

Für Moskaus Bürgermeister Luschkow ist das Internet ein „Müllhaufen“, für Putin ein Ärgernis, da es sich seiner Intention entzieht, alle Medien wieder der Staatskontrolle zu unterstellen. 2000 lancierte der damalige Presseminister Lesin ein Gesetzesvorhaben, das jeden Internetnutzer einer „Prüfung“ unterziehen und mit einer „Lizenz“ ausstatten sollte. Das Vorhaben scheiterte, aber die dahinter stehende Idee lebt weiter. Den Mächtigen Rußlands gilt das Internet auch als Instrument eines neuen „Kolonialismus“, als Schlüssel für Werkspionage, als Forum zur Verbreitung von „Haß, Aggressivität und Sexualität“. Diese Einstellung machte Experten wie Alena Ponomarjowa Angst: „Es ist schwer vorherzusagen, was mit dem russischen Internet in den nächsten Jahren geschehen wird. Ich denke, die Regierung wird harte Beschränkungen einführen – wie in China.“ Noch blieb das Internet in Rußland unzensiert, da es technisch unzensierbar ist: Eine heute verbotene Website taucht morgen an anderer Stelle wieder auf, wie Moskau seit Jahren leidvoll erfahren muß. Die kollektivistische, staatsgläubige Mentalität der Russen ist im Grunde nicht „Internet-tauglich“, aber das muß nicht so bleiben. Einen Vorgeschmack bekommen die Mächtigen seit 2005, da sich immer mehr Russen über die Vorgänge in Georgien, der Ukraine und Tschetschenien im Internet informieren und dabei in Zweifel über die Staatsmedien geraten. Das restliche Osteuropa steht zwischen den Erfahrungen restriktiver kommunistischer Informationspolitik und dem Erlebnis neuer Möglichkeiten. Anfang 2007 nutzten zum Beispiel knapp 62 Prozent der Deutschen das Internet, womit kein osteuropäisches Land mitkam, obwohl alle seit 2000 enorme Steigerungen aufwiesen: Polen – 30 Prozent Internetnutzer, 307 Prozent Steigerung. Davor oder dahinter standen Slowenien (55 / 253), Estland (52 / 88), Tschechien (50 / 410), Slowakei (46 / 285), Lettland (45 / 587), Litauen (36 / 443), Ungarn (30 / 327), Bulgarien (29 / 412) und Rumänien (23 / 516). Diese Zahlen scheinen den alten Traum von der „Befreiungstechnologie“ Internet zu bestätigen, aber im Detail zeigen sich Unterschiede: Das Internet nutzen mehr Unternehmen als Haushalte, mehr Städter als Dörfler, mehr Intellektuelle als „einfache“ Menschen, mehr Männer als Frauen.

Foto: Die Welt entdecken über das Internet: Zwei junge Russen surfen im worldwideweb. (Caro)


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