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07.06.08 / Romuald, der Friedensstifter / Wenn die Menschen nicht miteinander reden, bedarf es ab und an einer kleinen Starthilfe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-08 vom 07. Juni 2008

Romuald, der Friedensstifter
Wenn die Menschen nicht miteinander reden, bedarf es ab und an einer kleinen Starthilfe
von Albert Losenau

Die neue Siedlung war am Stadtrand errichtet worden. Auf einer Wiese, die zuvor als Weide gedient hatte, standen nun einheitlich hoch aufgeschossene Betonklötze. Es gab auf jeder Etage vier Wohnungen, einen Müllschlucker, einen Lift, Tiefgaragen im Keller und eine Waschküche mit Trockenraum.

Nur ein gemeinschaftliches Leben der Menschen, die hier eingezogen waren, gab es nicht. 20 Familien wohnten  in einem Haus. Sie grüßten sich mit knappem Kopfnicken, wenn sie einander begegneten. Beim Zusammentreffen im Fahrstuhl blick­ten sie angestrengt auf die kahle Wand der Kabine, ohne den geringsten Versuch, Kontakt miteinander aufzunehmen.

Die Wohnungstüren schlossen sich schnell hinter ihnen, als befürchteten sie das Eindringen eines unerwünschten Besuchers. Eine fast beklemmende Stille herrschte im Haus, die nur gelegentlich durch die Stimmen spielender Kinder unterbrochen wurde. Aber selbst dieser Lärm, der oft Anlaß zu lautstarkem Protest gab, blieb äußerst selten. Das Haus schien zu einem bedrückenden Alptraum geworden zu sein.

Nur Frau Pielbusch bemerkte die Lautlosigkeit nicht. Die alte Dame hörte schlecht und nahm im allgemeinen nur markante Laute wahr. Besonders gut hörte sie das schrille Krächzen Romualds, mit dem sie sich gern unterhielt. Romuald, ein kleiner Papagei, dessen Gefieder in allen Regenbogenfarben schimmerte, war der Liebling der alten Dame.

Frau Pielbusch, ein heiterer Mensch, verstand im Gespräch die Mitbewohner nur selten. Daher stritt sie sich auch nicht mit ihnen. Sie lächelte jeden freundlich an, weil sie nichts von den Auseinandersetzungen zwischen ihren Nachbarn erfuhr.

Da war zum Beispiel der Streit, den Herr Becker und Herr Witzgall wegen eines Ringkampfs ihrer Sprößlinge miteinander hatten. Frau Höpfner und Frau Klaasen wiederum konnten sich nicht über die Benutzung des Trockenraumes einigen. Ihre diesbezügliche Meinungsverschiedenheit begann mit unsachlichen Argumenten und endete in einem scharfzüngigen Wortgefecht. Seitdem grüßten sie sich nicht mehr und verboten ihren Kindern, miteinander zu spielen.

Von alledem wußte Frau Pielbusch nichts. Für sie war die Welt in diesem Haus in Ordnung. Und der tatsächliche Zustand wäre vermutlich noch lange so geblieben, hätte Romuald nicht auf seine Weise eingegriffen.

Es war an einem Sonnabendvormittag, als der junge Mann von der Wäscherei bei Frau Pielbusch läutete. Die alte Dame fütterte gerade ihren Papagei und vergaß, den Käfig zu schließen, ehe sie die Wohnungstür öffnete. Romuald nutzte die Gelegenheit. Er startete aus seinem Bauer, flatterte durch die Diele und ließ sich auf der Schulter des verdutzten jungen Mannes zu einer kurzen Zwischenlandung nieder.

Bevor Frau Pielbusch sich von ihrem Schreck erholte und zugriff, flog Romuald schon weiter. In kühnem Bogen segelte er durch die Eingangshalle und schwebte ins Treppenhaus hinauf. Gerade kam Frau Höpfner mit ihren Kindern nach Hause. Sie sahen, was geschah und verfolgten den gefiederten Ausreißer. Auch Frau Pielbusch eilte ihm nach. Laut hallten die Rufe durchs sonst so stille Haus.

Türen öffneten sich. Der allgemeine Aufruhr machte Romuald sichtlich Spaß. Er entwich ins nächst Stockwerk. Dort blieb er auf einem Mauervorsprung sitzen und betrachtete mit schief geneigtem Kopf seine Verfolger.

In diesem Augenblick hielt der Lift auf der Etage. Herr Witzgall stieg aus. Mit einem Blick überschaute er die Situation und handelte entschlossen. Ohne zu zögern, holte er eine Leiter aus seiner Wohnung. Romuald beäugte ihn sehr genau. Als Herr Witzgall die erste Sprosse erklomm, verließ der farbenprächtige Vogel seinen Zufluchtsort und flog ins höhere Geschoß.

Hier erschienen, durch den Lärm geweckt, außer Frau Klaasen und anderen Nachbarn auch Herr Becker auf der Bildfläche. Obgleich er sich geschworen hatte, kein Wort mehr mit Herrn Witzgall zu sprechen, half er ihm doch, die Leiter erneut aufzustellen. Gemeinsam überlegten sie dann, was zu tun war.

Sie mußten behutsam vorgehen, denn Romuald hatte inzwischen seinen sicheren Hort auf der Oberkante des schräg gestellten Flurfensters gefunden. Vergeb­lich streckte Frau Pielbusch inmitten anderer Hausbewohner die Hand nach ihm aus und rief seinen Namen. In ihrer begreiflichen Aufregung verstand sie kaum ein Wort. Doch an den freundlichen Mienen rundherum erkannte sie die allgemeine Hilfsbereitschaft.

Nun schritten Herr Becker und  Herr Witzgall zur Tat. Frau Höpfner hatte ihnen ihre Kittelschürze zur Verfügung gestellt, mit der Romualds Ausflug endgültig beendet werden sollte. Herr Witzgall erklomm die Leiter, die sein Nachbar festhielt. Er schwenkte die Schürze wie ein Netz, um sie über den Papagei zu werfen. Erschreckt stieß Romuald ein schrilles Krächzen aus. Er flatterte hoch, verlor dabei den Halt und glitt an der Außenseite des Fensters wie auf einer Rutschbahn herunter. Mit weit gespreizten Flügeln landete er schließlich sanft im Sandkasten des Kinderspielplatzes. Hier blieb er  erschöpft sitzen. Kurz darauf war er von den Hausbewohnern umringt. Mühelos fing Herr Witzgall den Ausreißer ein und brachte ihn ins Bauer zurück. Frau Pielbusch dankte allen und lud sie für den Nachmittag zum Kaffee ein.

Das zwanglose Beisammensein wurde ein unerwarteter Erfolg. Tische und Stühle waren auf den Rasen hinter dem Haus gestellt worden. Ausgelassen tollten die Kinder herum, ohne daß sich jemand über den Lärm  beschwerte. Im Gegenteil. Man freute sich über die Eintracht, die unter ihnen herrschte.

Nach dem Kaffee schleppten die Männer einen Kasten Bier heran. Den Damen spendete Frau Pielbusch ein Fläschchen Aprikosenlikör. Die Stimmung war prächtig. Frau Höpfner verriet Frau Klaasen ihr bewährtes Rezept für einen Apfelstrudel. Herr Becker und Herr Witzgall entdeckten, daß sie ein gemeinsames Hobby hatten und fachsimpelten über elektronisch gesteuerte Flugzeugmodelle. Sie konnten einfach nicht mehr verstehen, weshalb es zu der heftigen Auseinandersetzung zwischen ihnen gekommen war.

Frau Pielbusch saß am Kopfende der Tafel. Obgleich sie nicht alles verstand, blickte sie zufrieden lächelnd in fröhliche Gesichter. Neben ihr thronte in seinem Bauer die Hauptfigur des Tages: Romuald, der buntschillernde Papagei, dessen abenteuerlicher Ausflug die kontaktarmen Bewohner des Hochhauses auf der Wiese in nette, sympathische Nachbarn verwandelt hatte.

Foto: Papageien erfreuen sich weltweit großer Beliebtheit


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