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14.06.08 / Er war Wladimir Putins Lehrmeister / Juri Wladimirowitsch Andropow wurde vor 25 Jahren Staatsoberhaupt der Sowjetunion

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-08 vom 14. Juni 2008

Er war Wladimir Putins Lehrmeister
Juri Wladimirowitsch Andropow wurde vor 25 Jahren Staatsoberhaupt der Sowjetunion
von Fred S. Oldenburg

Der Oberste Sowjet wählte am 16. Juni 1983 Jurij Wladimirowitsch Andropow zu seinem Vorsitzenden und damit zum faktischen Staatspräsidenten der UdSSR. Den einen galt er als Liberaler, gar als Reformer, den anderen als Nachfolger des „sowjetischen Himmler“, wie Stalin einmal Roosevelt gegenüber Lawrentij Berija, den für den Terrorapparat seit 1938 Verantwortlichen, nannte. Jurij Wladimirowitsch Andropow, geboren am 15. Juni 1914 in der Region Stawropol, war weder ein Reformator, noch ein blutrünstiger Henker. Vielmehr reduzierte der mit 68 Jahren zum Generalsekretär der KPdSU gewählte Mann die unmenschliche Rolle des sowjetischen Gulag. Er verstärkte jedoch gleichzeitig die Meinungskontrolle, setzte auf Irrenanstalten für Dissidenten und ließ wie Lenin erbitterte Gegner des Systems ausweisen. Er war der erste Herrscher im ZK-Gebäude am staraja ploschtschad, der zuvor den KGB geleitet hatte, und wußte mehr als sein Vorgänger Breschnew um die tatsächlichen Verwesungsanzeichen der zweiten Supermacht. Bereits als Andopow am 12. November 1982, nach nur einer Stunde Diskussion, zum Parteichef gekürt wurde, war sein Imperium ebenso krank wie er selbst. Keine leichte Aufgabe und, wie sich zeigte, keine, die mit den alten leninschen Folterwerkzeugen zu beheben war, nicht mit Zwang, nicht mit ideologischer Orthodoxie.

Andropow, der so alt wie keiner seiner Vorgänger bei der Übernahme des Generalsekretärsposten war, mußte bereits nach drei Monaten im Parteiamt an die Dialyse angeschlossen werden. Nach seinem Sommerurlaub 1983 auf der Krim wurde er in eine Klinik am westlichen Rand Moskaus eingewiesen, von wo er mit Unterstützung seiner persönlichen Referenten die Partei durch Memoranden leitete. Von den 15 Monaten, in denen er regierte, verbrachte er die Hälfte auf der Krankenstation.

Dieser großgewachsene, sich intellektuell gebende, bescheidene, geradezu asketische Mann war lange Zeit im Hintergrund geblieben, obwohl er seit 1957 für die Verbindung zu den kommunistischen und Arbeiterparteien der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten verantwortlich zeichnete und 1967 an die Spitze des Komitees für Staatssicherheit gestellt worden war. Als Michail Suslow, der Chefideologe der Partei, verstarb, wurde er, der oberste Geheimpolizist, im Mai 1982 sein Nachfolger. Mitglied des übermächtigen Politbüros war er schon seit dem April-Plenum 1973. Zusammen mit dem Vertreter des militär-industriellen Komplexes, Verteidigungsminister Ustinow, und Minister Gromyko leitete er die Außenpolitik des Landes. Der Generalsekretär der Partei, Leonid Breschnew, war seit Mitte der 70er Jahre nur noch beschränkt arbeitsfähig. Mehrere Hirnschläge hatten den Verfechter der Detentepolitik (Entspannungspolitik) kampfunfähig gemacht.

Die Konfrontationsstrategie, deren Konsequenzen Breschnew besonders in Afghanistan wegen der Folgen für die „Entspannung“ zu vermeiden trachtete, belasteten das sowjetische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem über alle Maßen. Die illegitime Herrschaft der Kommunistischen Partei, die irreale Logik von Staatseigentum und zentraler Planung, welche die bürokratische Herrschaft der Funktionäre begründen sollte, verhinderten durchgreifende Reformen. Andropows gesamter Werdegang vom Filmvorführer, Bootsmann, Komsomol- und Parteisekretär im feindlichen Karelo-Finnland zum ZK-Mitarbeiter, Botschafter in Ungarn während des Schicksaljahres 1956 und Verantwortlichen für den Sowjetblock sowie schließlich die 15 Jahre an der Spitze der sowjetischen Geheimpolizei legten diesen sensiblen, sprachkundigen Autodidakten auf einfache Lösungen fest, welche er in der Vergangenheit suchte. Wirtschaftsexperimente blieben auf wenige Betriebe beschränkt.

Stattdessen setzte Andropow darauf, die galoppierende Korruption zu bekämpfen, wobei es ihm auch darauf ankam, die Familie seines Vorgängers in den Geruch der Bestechlichkeit zu bringen. Doch er scheute sich auch keineswegs, den mächtigen Innenminister Schtschelokow aus ähnlichen Motiven auf die Anklagebank zu zerren. Noch in Erinnerung sind seine überfallartigen Kontrollen von Schlange stehenden Moskauern oder gar Besuchern beliebter Ausflugsziele am Rande der Hauptstadt, die er darauf überprüfen ließ, ob sie nicht zu jener Zeit ihre Berufsarbeit versäumten. Überall sah er Verfall, dem es mit harten Strafen zu begegnen hieß. Disziplin und Ordnung waren seine Lösungsmittel, die er dem privaten Sittenverfall und der Verschleuderung öffentlicher Mittel entgegensetzte. Sein Feldzug gegen Ineffizienz, Müßiggang und Unordnung hatte wenig Erfolg. Doch teilte er empfindliche Schläge gegen neureiche Funktionäre des Staatsapparates und gegen Parteisekretäre aus, wenn ihnen Veruntreuung oder Vetternwirtschaft nachzuweisen war. Es ist nicht vorauszusagen, wie weit der Vorsitzende des Obersten Sowjet und Generalsekretär der sowjetischen Staatspartei bei seinen Anstrengungen gegen die systembedingten „Sumpfblüten“ gegangen wäre. Jedenfalls brachte sein Vorgehen, das mehr und mehr vom Krankenbett orchestriert werden mußte, ihm Respekt und Achtung der Partei- und Kriegsveteranen ein. Gerade die ältere Generation setzte auf ihn, weil seine Hände sauber und seine Absichten lauter schienen. Und weil er das System nicht, wie sein damaliger Landwirtschaftssekretär Gorbatschow 15 Jahre später, durch radikale Neuerungen aufs Spiel setzte. Andropow war in der Innenpolitik ein Mann der kleinsten Schritte, der Stück­werktechnologie. Ein Mann der Visionen war er nicht.

Andropows Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik war hingegen die bizarre Mixtur eines auf die Spitze getriebenen Realismus mit einer im KGB gewonnenen Worst-Case-Mentalität, sprich der Annahme des schlimmstmöglichen Falles. An diesem Kurs sollte sich bis zu seinem Tode nichts ändern. Da durch die von Andropow, Ustinow und Gromyko gesteuerte Afghanistaninvasion und die von den Falken beziehungsweise Hardlinern durchgesetzte Stationierung der auf Westeuropa zielenden SS-20 die Westbeziehungen ins Schlingern geratenen waren, hatte Andropow trotz der Herausforderungen in Polen eine weitere militärische Invasion in ein „Bruderland“ ausdrücklich verworfen. Er forderte Jaruzelski auf, die Dreckarbeit selbst zu leisten. Der KGB-Chef schien sogar bereit, die Breschnew-Doktrin zu opfern, um wenigstens „seine“ Sowjetunion zu retten. Überrüstung, Überengagement in der Dritten Welt und die immanenten Krisenelemente einer totalitären Ein-Partei-Herrschaft waren übereinander gepurzelt und hatten die Breschnew-Nachfolger restlos überfordert.

Andropows außenpolitische Bilanz war letztlich verheerend. Panik bestimmte seine Aktionen. Aber selbst dieser gestrenge Mann hatte eine kleine Schwäche für die USA: Andropow liebte Jazz und besaß eine veritable Sammlung von Platten Glenn Millers. Am 9. Februar 1984 verstarb Andropow. Die Zeit ist längst über ihn hinweggegangen. Doch einer seiner Jünger ist heute der starke Mann in Moskau: Wladimir Putin. Marx erinnert uns daran, daß in der Geschichte alles zweimal stattfindet. Wohin geht Rußland heute?

Am selben Tag, an dem er seine letzte Politbürositzung leitete, um sich dann völlig ins Krankenbett zurückzuziehen, am 1. September 1983, informierte ihn Verteidigungsminister Ustinow über den Abschuß einer südkoreanische Passagiermaschine mit 267 Reisenden an Bord. Die Welt schien einer neuen Katastrophe entgegen zu treiben. Bereits im Mai 1981 hatte Andropow in Anwesenheit Breshnews vor KGB-Oberen referiert und die Vereinigten Staaten ernsthaft beschuldigt, einen atomaren Überraschungsangriff vorzubereiten. Er forderte, durch enge Zusammenarbeit des militärischen Geheimdienst (GRU) und des KGB in westlichen Hauptstädten ein Frühwarnsystem aufzubauen, welches alle verräterischen Anzeichen eines Angriffs sammeln sollte. In jenen Monaten beobachteten sowjetische „Kundschafter“, wann und wie Repräsentanten westlicher Staaten ihren Arbeitsplatz aufsuchten und verließen. Als ein dramatisches Alarmzeichen dieser Operation RYAN (raketno-jadernoje napadenije) galt die Nato-Übung „Able Archer“ im Herbst 1983, aus deren Planung der Generalsekretär schloß, an deren Ende drohe ein nuklearer Angriff auf die Sowjetunion.

Andropow wollte nicht wie sein großes Vorbild Stalin 1941 den Gedanken aufkommen lassen, von einem westlichen Angriff überrascht zu werden. Persönlich hatte er den sowjetischen Spion Richard Sorge posthum rehabilitiert. Jetzt hörte ihn Botschafter Anatolij Dobrynin sagen: „Reagan ist unberechenbar. Man muß von ihm alles erwarten.“ Als der US-amerikanische Präsident ihm eine handgeschriebene persönliche Botschaft überbringen ließ, mit der sich die USA bereit erklärten, die bestehende nukleare Bedrohung abzubauen, interpretierte Andropow dieses Schreiben als „Wunsch, die sowjetische Führung zu desorientieren“. Seine Antwort war höflich und formal, aber sie ignorierte das Angebot des US-Präsidenten.

Die Spannungen zwischen Moskau und Washington hatten zuvor ihren Höhepunkt erreicht, als die USA nicht nur Grenada überfielen, sondern auch in mehreren westeuropäischen Staaten, darunter der Bundesrepublik Deutschland, Cruise missiles und Pershing-II-Raketen stationierten, die Moskau in wenigen Minuten erreichen konnten. Die von Andropow unterstützten westlichen Parteien hatten versagt. Für deren Finanzierung waren die mittelosteuropäischen Bruderparteien zuvor mit ihren sauer verdienten Devisen zur Kasse gebeten worden.

Andropows außenpolitische Bilanz war letztlich verheerend. Panik bestimmte seine Aktionen. Aber selbst dieser gestrenge Mann hatte eine kleine Schwäche für die USA: Andropow liebte Jazz und besaß eine veritable Sammlung von Platten Glenn Millers. Am 9. Februar 1984 verstarb Andropow. Die Zeit ist längst über ihn hinweggegangen. Doch einer seiner Jünger ist heute der starke Mann in Moskau: Wladimir Putin. Marx erinnert uns daran, daß in der Geschichte alles zweimal stattfindet. Wohin geht Rußland heute?

Foto: Juri Wladimirowitsch Andropow: Dem Russen waren nur wenige Monate an der Spitze seines Staates vergönnt.


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