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14.06.08 / Drei ungleiche Schwestern / Schon eine Schnupperfahrt nach Lettland, Litauen und Estland offenbart einzigartige Naturschönheiten und wertvolle Kultur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-08 vom 14. Juni 2008

Drei ungleiche Schwestern
Schon eine Schnupperfahrt nach Lettland, Litauen und Estland offenbart einzigartige Naturschönheiten und wertvolle Kultur
von Thomas Winzker

Litauen, Lettland, Estland: Wie leicht wirft man diese drei Nationen hierzulande in einem Topf. Dabei unterscheiden sich die Länder in Architektur, Sprache, Geschichte und Natur sowie nicht zuletzt im gegensätzlichen Temperament ihrer Bevölkerungen.

Auch wenn zwei oder drei Wochen für einen erholsamen Besichtigungsurlaub des Baltikum sicher sinnvoll wären, genügt auch schon eine Woche, um sich einen ersten Eindruck der drei Länder im hohen Nordosten zu verschaffen. Dann aber idealerweise Oneway, sei es von Vilnius nach Tallinn oder im gegenläufigen Sinn. Wir haben uns für erstere Variante entschieden, weil man so gut die drei Entwicklungsstufen der Länder nach dem Ausscheren aus dem ehemaligen Sowjetreich von unten nach oben beobachten kann: Litauen ist das rückständigste Land, Estland durch seine Nähe zu Finnland das fortschrittlichste und wohlhabendste, Lettland liegt dazwischen. Diese Unterscheidung in den drei Metropolen Vilnius, Riga und Tallinn ist deutlich spürbar.

Vilnius ist als einzige der drei Hauptstädte nicht am Meer gelegen. Das vergleichsweise verschlafene Nest ist im Gegensatz zu den anderen Metropolen katholisch geprägt. Wenig verwunderlich, waren Polen und Litauen doch einst durch Hochzeitspolitik des Hochadels zu einem Reich verbunden. In Vilnius stehen Kirchen, wohin das Auge blickt, darunter viele, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurden, wie auch die altehrwürdige Universität, eine der ältesten Europas, und viele der vom Barock geprägten Straßenzüge. Vom weitläufigen Platz der klassizistisch umgestalteten Kathedrale mit noch erhaltenem mittelalterlichen Turm gelangt man in die romantische Flanier- und „Freß“-Gasse, die Pilies Gatve, gesäumt von zahllosen Cafés und Restaurants. Hier im Viertel liegen die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt: die kleine St.-Anna-Kirche, ein flamboyant-gotisches Architekturjuwel aus Backstein, das Napoleon so gut gefallen haben soll, daß er es nach Paris abtransportieren lassen wollte, das Tor der Morgenröte mit der Marienkapelle, die barocke Heiliggeistkirche, die wichtigste orthodoxe Kirche Litauens mit dunkelgrünem, barockem Hochaltar. Nobel wohnen und essen kann man in den engen Gassen des jüdischen Viertels um die Synagoge, der einzigen erhaltenen der Stadt.

Einen lohnenswerten Ausflug kann man zur mächtigen Wasser-Trutzburg Trakai machen, die sorgsam restauriert malerisch auf einer Insel liegt, und nach Kaunas, an der Memel gelegene Interimshauptstadt, als Vilnius 20 Jahre zu Polen gehörte. Stimmungsvoll ist hier der weite zentrale Platz mit Renaissance-Rathaus und barocker Jesuitenkirche. Gleich um die Ecke liegt das Perkunas-Haus, ebenfalls ein Prachtbau der Gotik. Etwa 250 Kilometer entfernt von Vilnius erreicht man Memel, das heute Klaipeda genannt wird. Berühmt ist der Brunnen mit der Ännchen-von-Tharau-Statue. Selbstredend, daß Kinder hier das beliebte Lied den Touristen zu Ohren bringen.

Mit der Fähre setzt man auf die Kurische Nehrung über, ein sichelförmiger schmaler Landstreifen, der das Haff vom offenen Meer trennt. Mit Kiefern und Birken dicht bewachsen, zeigt sich hier eine verwunschene Natur, die hellen Ostseesandstrände sind endlos. Kein Wunder, daß Thomas Mann ein Traumhaus aus Holz, rot-blau-weiß lackiert, erwarb, um sich in herrlicher Abgeschiedenheit seinen Werken zu widmen. Es liegt etwas außerhalb von Nidden, dem schönsten Ort auf der Nehrung. Heute ist es mit seinen bunten Holzhäusern und der Große Düne im Hintergrund, mit 60 Metern eine der höchsten Europas, Touristenmagnet erster Wahl, mit vielen Unterkünften und Restaurants. Als einmaliges Zeugnis seiner Vergangenheit sei auch der Kuren-Friedhof erwähnt, geschmückt mit urtümlich geschnitzten verwitterten Holzkreuzen.

Der Weg Richtung Lettland führt über den ehrfürchtigen „Berg der Kreuze“, in der Nähe von Šiauliai. Hier stellten seit dem 19. Jahrhundert Pilger auf einem Hügel Kreuze – aus allen erdenklichen Materialien in allen Größen – auf, die sich unter der Last von Rosenkränzen, Heiligenbildern und weiteren Kreuzen und Kreuzchen zu biegen scheinen. Vergeblich versuchten die Sowjets dieses Sinnbild tiefer Religiosität zu vernichten. Inzwischen geht die Zahl wieder in die Zigtausende, auch Papst Johannes Paul II. war unter den Besuchern.

Spart man sich einen Abstecher nach Jarmala, wo die „lettische Riviera“ mit schneeweißen Stränden beginnt, passiert man schon bald die Grenze zu Lettland. Die Einreiseformalitäten sind schnell erledigt, nur Geld muß man noch tauschen, denn der litauische Litas ist nicht mit dem lettischen Lats kompatibel. Auch wenn sich die Natur mit ihren ausgedehnten Wäldern nicht all zu sehr unterscheidet: In den Dörfern und Städten herrscht eine andere Mentalität. Die Menschen scheinen materieller eingestellt und die Sprachen beider Länder sind völlig unterschiedlich. Ironie des Schicksals: Nur auf Russisch, der Sprache der verhaßten Besatzer, könne sich die Bürger der drei baltischen Staaten heutzutage verständigen. Kurz nach der Grenze darf man keinesfalls den Besuch von Schloß Rundale versäumen, dem „Versailles der Ostsee“. Kein Geringerer als Bartolomeo Rastrelli, Lieblingsbaumeister von Peter dem Großen, schuf dieses Wunderwerk des Barocks, mit Prachtsälen und weitem Garten.

In Riga, der einzigen Großstadt des Baltikums, pulsiert das noch immer sehr russisch geprägte Leben. Der einstigen Hansestadt ist anzumerken, daß sie sich seit ihrer Gründung 1201 rasch zum wichtigsten Handelszentrum im Ostseeraum entwickelte. Vor allem das herrliche, im Zweiten Weltkrieg zerstörte und 2001 wiedererrichtete Schwarzhäupterhaus zeugt von der illustren Vergangenheit der Metropole. Das schönste Gotteshaus ist die Petrikirche, heute zweckentfremdet als Galerie. Im Original erhalten sind hingegen die „Drei Brüder“, ein entzückendes Wohnhaus-Ensemble aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Der Dom St. Marien ist die größte Kirche des Baltikums, er birgt wertvolle Kunstschätze. Zur Zeit seiner Fertigstellung 1884 war er der größte der Welt. Berühmt ist Riga jedoch wegen einer ganz anderen Architekturepoche: dem Jugendstil. Wie kaum eine andere europäische Stadt weist sie ganze Viertel mit den phantasievollen Gebäuden im „floralen Stil“ auf. Vergleiche mit Budapest, Wien oder Nancy muß Riga in der Hinsicht nicht scheuen.

Die Fahrt nach Estland führt durch den Gauja-Nationalpark mit seiner unberührten Natur und majestätischen Ordensburg. In der einzigartigen Landschaft läßt es sich wundervoll wandern. Nun ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Grenze nach Estland. Wieder muß Geld gewechselt werden, diesmal in Estnische Kronen, wieder ändert sich der Charakter der Menschen, die hier kühl, ja fast unnahbar wirken: Welch ein Unterschied zu den aufgeschlossenen und gastfreundlichen Litauern! Vielleicht ist das kleine Estland deshalb das fortschrittlichste der drei Nachbarn, wer weiß. So wundert es nicht, daß im schmucken mittelalterlich geprägten Tallinn jeder zweite Bewohner mit dem Handy am Ohr durch die engen Gassen schlendert. Leider ist auch das Preisniveau dieser Stadt am höchsten, wohl durch die finnischen Nachbarn, die auf Fähren aus Helsinki anlanden und in Heerscharen über die Stadt hereinfallen, um billig Alkohol und Zigaretten zu kaufen. Sie haben keine Verständigungsschwierigkeiten, da das Finnische eng verwandt mit dem Estischen ist. Doch von alldem lassen wir uns nicht beeinträchtigen: Tallinn ist die hübscheste der baltischen Städte, bedingt durch seine einmalige Lage am Meer und seine einzigartige Altstadt. Die Unesco erklärte das einstige Reval zum besterhaltenen mittelalterlichen Ensemble in Europa. Sinnlos, all die wundervollen Bauwerke und Ausblicke aufzuzählen. Am besten, man nimmt sich viel Zeit und erkundet Gasse für Gasse Ober- und Unterstadt innerhalb der intakten Stadtmauer. Ein Tipp außerhalb des Zentrums sei dennoch gegeben: das entzückende Schloß Katharinental, ein schönes Beispiel estnischer Barockarchitektur.

Wie schnell ist doch die Zeit verflogen, bei all der Pracht der drei baltischen Schwestern. Eine Woche kann allerdings nur ein Schnupperfahrt sein, die Lust auf mehr macht, hier am Nordostrand Europas. Das sind unsere Gedanken, als wir in Tallinn das Flugzeug zurück nach Deutschland besteigen.

Foto: Berg der Kreuze: In der Nähe von Šiaulia in Litauen haben Pilger ihre Spuren hinterlassen.


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