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21.06.08 / Erinnerungen an die Memel / Bestimmte Sehnsüchte kann man nicht kontrollieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-08 vom 21. Juni 2008

Erinnerungen an die Memel
Bestimmte Sehnsüchte kann man nicht kontrollieren
von Hannelore Patzelt-Hennig

Erinnerungen! Immer wieder steigen sie auf aus einer ungestillten Sehnsucht nach der Heimat und dem Leben von einst. Auf mich wirkt wie ein magisches Glied zwischen dort und hier durch die Jahrzehnte die Erinnerung an die Memel, in deren unmittelbarer Nähe ich geboren bin. Von frühester Kindheit an vertraut, im Sommer wie im Winter einbezogen in das damalige Dasein, lebt dieser unvergleichliche Strom unauslöschbar in mir fort.

Dazu gehören die in sandigen Buchten zwischen wispernden Weiden erlebten Badefreuden. Ebenso wie die „Eroberungen“ der Spickdämme (Buhnen) bis zur äußersten Spitze hin, wo wir Kinder uns den vorbeiziehenden Boydacks am nahesten wußten.

Immer war es spannend zu beobachten, was sich auf ihnen tat, da ganze Familien auf diesen Schleppkähnen lebten. Man sah Kinder an Deck spielen, Hunde dort umherlaufen, Wäsche auf Leinen flattern oder sich blähen. Wir winkten und freuten uns, wenn es nicht übersehen wurde. Und noch mehr als die Boydacks zogen uns die Flöße in ihren Bann, die manchmal gar nicht weit von den Spickdammspitzen vorbeitrieben. Sie kamen aus entfernten Bereichen, Gegenden, die wir nicht kannten. Und die Lieder, die die Flößer sangen, waren uns fremd wie ihre Sprache. Das machte uns alles, was stromaufwärts lag, geheimnisvoll. Stromabwärts, wo sie hintrieben, kannten wir die Strecke von den Dampferfahrten, die zu unserem Leben gehörten. Aber stromauf wären wir auch gern einmal gefahren, weit hinauf, dort wo die Flöße herkamen. Manchmal bestiegen wir einen am Ufer vertäuten Kahn und erträumten uns eine solche Reise. Was eine Träumerei blieb. Mit der Fähre auf die andere Seite des Stromes mitgenommen zu werden, glückte dagegen hin und wieder, wenn Heufuder aus den Memelwiesen herübergeholt oder leere Leiterwagen mit den dazugehörigen Gespannen übergesetzt wurden. Auf der anderen Seite angekommen, sah man dann aber zu, daß man schnell wieder zurück kam. Trotzdem blieben die Freude und der Stolz, drüben gewesen zu sein. Das alles gehörte zu unserem Sommerleben am Strom.

Wenn der Herbst kam, lag Schwere über dem Fluß. Jetzt zeigte er sich, wie er wirklich war, tiefgründig, gebieterisch, ernst. Um diese Zeit schien es manchmal so, als geböte er sogar den Wolken, ihm geneigt zu sein. Wie ergeben hingen sie über seinen Wassern.

Entgegenkommender zeigte die Memel sich erst wieder, wenn sie eine dicke Eisdecke trug und in winterlicher Starre, wie das weißverschneite Land rundum, dalag. Dann konnte man überall hinüber und herüber und darauf entlang. Selbst Langholzfuhren wie andere Pferdeschlitten nahmen diesen Weg. Lediglich auf leicht überfrorene Wunen war zu achten, sie konnten Personen zur tödlichen Gefahr werden. Es waren jene Löcher in der Eisdecke, die sich die Quappenstecher geschlagen hatten, um mit ihren vielzinkigen breiten Speeren jene herrlich schmack­haften Fische aus dem Strom zu holen, die um die Weihnachtszeit in die Memel zum Laichen kamen.

Bis zu vier Monaten bedeckte das Eis den Strom. Und wenn es in Bewegung geriet, wenn die Memel ging, erwachte mit dem treibenden Eis die Freude auf den Frühling.

Dann atmeten die Memelschiffer in den Winterhäfen auf. Und die Fischer konnten bald schon Reusen, Kescher und Wender zu Wasser lassen. Und was ihnen von dem vielfältigen Fischreichtum des Stromes zur Beute wurde, gereichte zu so manchem schmackhaften, monatelang entbehrten Gaumenschmaus.

Wir lebten damals so ganz mit der Memel und die Memel mit uns.


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