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28.06.08 / Preußisch-provenzalische Freunde / Historische Spurensuche: Wertvoller Briefverkehr zweier Wissenschaftler entdeckt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-08 vom 28. Juni 2008

Preußisch-provenzalische Freunde
Historische Spurensuche: Wertvoller Briefverkehr zweier Wissenschaftler entdeckt
von Jean-Paul Picaper

Im Januar 2006 rief mich ein Bekannter an, den ich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr getroffen hatte. Burkhard Schmidt, der mich im Namen der amerikanischen wertkonservativen Organisation „Western Goals“ einige Male während des Kalten Krieges mit dem Wunsch besucht hatte, daß ich deren gute Ziele journalistisch unterstütze. Er war ein faszinierender Mensch, ein mit internationalen Preisen gekrönter Architekt, der große Bauprojekte verwirklicht hatte und ein Humanist war, der sich für Kunst, Musik, Religionsgeschichte, Geschichte und Politik interessierte. Er hatte weltweite Kontakte und war Mitglied eines karitativen Vereins, „Die Sankt-Georg-Ritter“

Sein Anliegen war außergewöhnlich. Er erklärte mir, daß er im Besitz von Originalschriften des provenzalischen Schriftstellers Frédéric Mistral sei, die aus dem Nachlaß eines „ostpreußischen Gelehrten“ stammten. Dieser Gelehrte sei der Professor Eduard Koschwitz gewesen, seinerzeit Rektor der Universität Königsberg. Schmidt, der ein Büchernarr und ein Sammler alter Schriften und Dokumente war, besaß viele Schriften und Fotos von Koschwitz. Ich machte mich über Prof. Koschwitz sachkundig. Er war 1851 in Breslau geboren und starb 1904 in Königsberg, wo er tatsächlich Rektor gewesen war. Seine Laufbahn hatte ihn zunächst 1894 von Königsberg zur Uni Greifswald verschlagen, wo er 1895 Rektor wurde und anläßlich seiner Ernennung eine Rede über die Bewegung der „Felibres“ in Frankreich hielt. Dort blieb er nur bis 1896 und gründete dann in Marburg Fremdsprachenkurse. Es ging eine Weile gut, aber er hatte ein Zerwürfnis mit einem Kollegen, der die Sprachen als praktische Werkzeuge betrachtete, während der hochgebildete Koschwitz die Geschichte und Hintergründe des Vokabulars beleuchten wollte. Als er es nicht mehr aushalten konnte und seine Gesundheit darunter litt, ließ er sich 1901 wieder nach Königsberg versetzen, wo er bei geschwächter Gesundheit schon 1904 verstarb. 

Kein Wunder, daß Koschwitz’ gesamter Nachlaß in Königsberg blieb, wo er auch beerdigt wurde. Woher hatte Schmidt jedoch Koschwitz’ Texte? Sein Großvater habe die zentrale Apotheke in Königsberg geführt, berichtete er mir. Das Material käme von ihm. Wie der Königsberger Apotheker in dem Besitz von Koschwitz’ Schriften gekommen war, wußte er nicht. Jedenfalls hatten er und seine Mutter Ostpreußen einige Zeit vor der großen Flucht von 1945 mit der Bahn verlassen können. Sie hatten einige Habseligkeiten, auch vom seligen Großvater, mitnehmen können. Seitdem habe er das bei sich aufbewahrt. Ich nahm Burkhard Schmidt ernst, zumal er hinzufügte: „Ich könnte diese Schriften von Mistral im Auktionshaus Sotheby’s in London zu einem guten Preis verkaufen, aber ich will Frankreich, genauer gesagt Südfrankreich, damit ein Geschenk machen. Sicherlich gibt es dort eine Mistral-Stiftung. Helfen Sie mir, ich kann nicht genug Französisch.“ Ich fragte, warum er Südfrankreich zugeneigt war. „Mein Vater, erklärte er, hat im Krieg als Besatzer in Frankreich bei einer französischen Familie in Toulouse gewohnt. Er konnte einigermaßen Französisch und es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen ihm und seinen Gastgebern. Der Kontakt zu dieser Familie hat nach Kriegsende noch Jahrzehnte bestanden.“

Ich nahm per Telefon und Brief Kontakt auf mit dem Mistral-Museum in der provenzalischen Kleinstadt Maillane, in welcher der Dichter gelebt hatte. Mit den Leuten dort wurde vereinbart, daß wir auf der Buchausstellung, die wir jährlich im August im südfranzösischen Dorf Saint Sauveur de Peyre (Département Lozère) veranstalten, den Leuten aus Maillane den Nachlaß feierlich aushändigen würden. Die Museumsverwalterin, Brigitte Pitra, und der Bürgermeister von Maillane, Jacques Demarle, nahmen das Angebot begeistert an. Ich sagte, daß Herr Burkhard Schmidt selbst diese Gabe aushändigen würde und sich freue kommen zu dürfen. Dennoch hörte ich zwei Monate lang nichts mehr von ihm. Am 17. April 2006 schrieb ich ihm, ob er denn seinen Vorschlag vergessen hatte. Am 24. April informierte mich seine Frau, daß er gerade an galoppierendem Krebs verstorben war. Wir beschlossen gemeinsam, diesen letzten Willen des Verstorbenen auszuführen. Sie suchte ein paar Tage nach den Koschwitz-Dokumenten. Sie fand sie in einer Kiste und ließ sie mir  durch einen Freund nach Berlin bringen. Es erwies sich, daß das Material recht wertvoll war. Es waren viele Schriften und Publikationen von Koschwitz dabei, aber auch von Mistral, auch Briefe und Postkarten des Dichters, auch signierte Fotos. Darunter befanden sich handschriftliche Notizen des Dichters zu seinen Lektüren des Entwurfes seines Hauptwerks „Mireille“ („Mirèo“ aus Provenzalisch), als er es vor Freunden vorgetragen hatte, um zu testen, ob dieses Epos ein Publikumserfolg sein würde. Das wurde es auch und ist es bis heute geblieben. Der Musiker Charles Gounod hat es sogar 1863 vertont. „Mireille“ ist die Geschichte einer reichen Bauerntochter, die sich in einen armen Korbflechter verliebt und auf der Suche nach göttlicher Unterstützung auf Wanderschaft geht. Das Werk knüpft an den Mythos der Johanna von Orleans, schöpft aber aus dem Schatzkästlein provenzalischer Erzähler. Über „Mireille“ hatte Koschwitz ein Buch geschrieben.

Im Juli 2006 fuhr ich mit meiner Frau nach Maillane, um die Details der Feier zu regeln und um Mistrals Nachwirken vor Ort zu betrachten. Maillane ist nicht weit entfernt von Arles und St. Rémy de Provence, der Stadt der Maler, in der Van Gogh lebte und malte. Jacques Demarle führte uns durch das in ein Museum umgewandelte Wohnhaus des Dichters und zeigte uns sein Grab auf dem Friedhof der Gemeinde. Dort steht es, einem antiken Kleintempel ähnlich. Mistral habe es selbst nach dem Modell des Grabes der Königin Jeanne entworfen, wurde mir erklärt und anhand von Fotos bestätigt. Etwas weiter weg schaut das majestätische Grab seiner Pariser Mätresse wie von ihr selbst gewünscht auf Mistrals Grabstätte, die er mit seiner erst 1876 angetrauten Frau, Louise Rivière, teilt. Mistral war im September 1830 in Maillane als Sohn eines betuchten Gutsverwalters geboren worden. Er studierte Jura und ließ sich dann wieder in Maillane nieder, wo er in dem „Haus der Eidechse“, das er erst mit seiner Mutter bewohnte, seine wichtigsten Werke verfaßte. Ein paar Meter weiter steht das größere Haus, das er mit seiner Frau später bewohnte und in dem sein Leben und Schaffen mit ihrer Hilfe nach seinem Ableben im März 1914 archiviert und ausgestellt wurden.  

Herr Demarle zeigte uns Briefe vom deutschen Professor Koschwitz, die Mistral aufbewah >Die Akten von Koschwitz aus Königsberg befinden setzt in Maillane. Bürgermeister Jacques Demarle hat sie mitgenommen und den Gelehrten dort zum Studium vorgelegt, und im Januar 2008 starb er noch nicht einmal 60 Jahre alt an Krebs. Es ist, als ob ein Fluch auf den Verwaltern der Dokumente lastete. Koschwitz hatte nicht lange gelebt, Burkhard Schmidt und Jacques Demarle auch nicht. Eine große Überraschung für mich war festzustellen, daß Prof. Koschwitz sich für den Pariser Slang interessiert hatte. Er hatte darüber eine Studie verfaßt. Aus dem Material ging hervor, daß Koschwitz unbekannte Texte der französischen Literatur aus dem Mittelalter entdeckt und ediert hatte, darunter den „Chanson von der Reise von Karl dem Großen nach Jerusalem“. Diese Texte waren in den Dokumenten enthalten. Aus Briefen und Fotos ging hervor, daß er außerdem mit Mistral eine gemeinsame Leidenschaft für die Arbeiten eines Pariser Abtes, des Pfarrers Rousselot, entwickelt hatte, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Apparat zu bauen, der Menschen aufgrund ihrer Sprechweise identifizieren würde. Etwas, was heute mit Hilfe der Computer möglich gemacht wird. Koschwitz hatte oft diesen französischen Priester getroffen, der ihn auch in Deutschland besucht hatte. Es wurde auch klar, daß Mistral Koschwitz seinen 1904 erhaltenen Nobelpreis für Literatur verdankte. Koschwitz hatte befreundete dänische und schwedische Sprachwissenschaftler und auch den Romanisten Nikolaus Welter, der Mistral in Maillane besuchte, als Unterstützer für seinen Freund gewonnen. 

Es war das erste Mal, daß ein Vertreter einer „nichtnationalen“ Sprache diese höchste Belletristikauszeichnung erhielt. Die Schwedische Akademie zeichnete Mistral „mit Bezug auf die frische Ursprünglichkeit, das Geistreiche und Künstlerische in seiner Dichtung, die Natur und Volksseele seiner Heimat getreu widerspiegelt, sowie auf seine bedeutungsvolle Wirksamkeit als provenzalischer Philologe“ aus. Mistral hatte 1854 die Felibre-Bewegung gegründet zur Belebung und zum Erhalt der provenzalischen Sprache und Literatur und wurde bald deren Gallionsfigur. Er schrieb ein sehr umfangreiches Werk und publizierte in 20 Jahren ein Wörterbuch seiner Elternsprache. Manche haben ihn den „provenzalischen Goethe“ genannt. Einige französische Schriftsteller wurden blaß vor Neid, und französische Politiker regten sich wegen dieser ausländischen Förderung einer – zumindest kulturell – separatistischen Kultur im Südosten ihres Staatsgebildes auf. Waren die gekreuzten Schicksale von Koschwitz und Mistral, dieser Männer, die alles trennte, aber die Liebe zur romanischen Literatur und Sprachwissenschaft vereinte, nur Zufall? Hatte Koschwitz nur aus wissenschaftlicher Begeisterung und Freundschaft Mistral zum Nobelpreis verholfen, oder hatte er einen politischen Auftrag ausgeführt? In dem mir anvertrauten Material von Koschwitz befanden sich offizielle preußische Orden und Diplome, die der Kaiser Wilhelm selbst unterzeichnet hatte. Die freundschaftlichen Kontakte zu Mistral hatten sich zu einer Zeit entwickelt, als die deutsche und die französische Nation einander wie Streithähne gegenüberstanden und von dem nächsten bewaffneten Konflikt mit dem „Erzfeind“ träumten. Nichts davon ist in der Korrespondenz mit Koschwitz zu spüren. Bis zu seinem Tod 1914 schrieb Mistral freundlich Briefe. Aber Koschwitz wußte schon, welcher Geist in Frankreich wehte. Er hatte eine Studie mit dem Titel „Die Franzosen während und nach dem Krieg von 1870 bis 1871“ geschrieben. Mag sein, daß er ohne sein Zutun mißbraucht worden ist, aber er hat einen Dichter unterstützt, der am Anfang seiner Laufbahn durch und durch separatistische Thesen für die Provence vertreten hatte. Später beschränkte sich Mistrals Autonomiebewegung auf Sprache und Kultur. Er übersetzte selbst sein Werk ins Französisch und machte gegenüber Paris Zugeständnisse. Aber die Aufteilung Frankreichs in separate Provinzen, die ein strategisches Ziel der Habsburger und der Hohenzollern gewesen war, stand wohl doch im Hintergrund dieser wahren und uneigennützigen Freundschaft zwischen zwei großen Geistern in Deutschland und Frankreich.

Foto: Frédéric Mistral: Der Königsberger Professor Koschwitz verhalf ihm zum Nobelpreis.


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