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28.06.08 / Im Großem wie im Kleinen / Fast wäre mir das Abitur vermasselt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-08 vom 28. Juni 2008

Im Großem wie im Kleinen
Fast wäre mir das Abitur vermasselt
von Carl Behrens

Am 4. Februar 1938 gab Hitler die Entlassung des Generalfeldmarschalls Werner von Blomberg bekannt und machte sich selbst zum Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht. Vielleicht ist interessant, was ich am Tag danach als Abiturient erlebt habe?

Als Fahrschüler hatte ich täglich fünf Kilometer bis zum nächsten Bahnhof zurückzulegen. Am 5. Februar weckte mich mein Vater um 5.00 Uhr in der Frühe, eine Stunde früher als sonst. Draußen brauste ein kalter Sturmwind um unser Bauernhaus. Dieser Schultag war außerordentlich kalt, und der Schnee war auf den Landstraßen zu hohen Schanzen zusammen geweht. Darum mußte ich, mein Fahrrad eventuell schiebend, die fünf Kilometer bis zum nächsten Bahnhof zu Fuß zurücklegen.

Wenig Neigung verspürte ich, mich bei diesen Witterungsverhältnissen auf die Landstraße zu begeben. Ich sagte daher zu meinem Vater: „In 14 Tagen bestehe ich die Abiturprüfung sowieso. Da bleibe ich heute im Bett liegen.“ Für meinen in jeder Weise pflichtbewußten Vater kam ein „Schwänzen“ des Unterrichts überhaupt nicht in Frage. Warm vermummt, eine Wintermütze mit Ohrklappen, noch ein Wollschal darum und mit zwei Paar Handschuhen über den Händen begab ich mich anderthalb Stunden vor Abfahrt des Zuges auf den Weg und kämpfte, mein Fahrrad schiebend, gegen Wind und Schneemassen an. Gerade noch rechtzeitig hatte ich die fünf Kilometer zurückgelegt.

Als der Unterricht dann gegen 8.10 Uhr begann, war ich schon drei Stunden auf den Beinen gewesen. Etwas erschöpft ließ ich mich auf den Platz meiner Bank fallen. Der Geschichtslehrer Dr. Wüstmann betrat den Klassenraum und führte an diesem Tage, wie auch sonst bei besonderen politischen Anlässen, einen für ihn unerläßlichen „Ovationszirkus“ aus: „Heil Hitler!“ Aufspringen. Hand zum Deutschen Gruß ausstrecken. Setzen. Dieses Procedere wurde mehrmals ausgeführt, bis nach Gutdünken des Studienrats rechte Exaktheit und Schneid erreicht waren.

Unlustig hatte ich diese in meinen Augen völlig überflüssigen Zeremonien noch mitgemacht. Doch dann war ich erschöpft eingenickt. Plötzlich stand der Studienrat unmittelbar vor mir: „Warum zeigen Sie keinen Finger?“ Zu meiner Verblüffung meldeten sich alle meine Klassenkameraden stürmisch zur Beantwortung seiner gestellten Frage.

„Warum zeigen Sie keinen Finger?“ beharrte Dr. Wüstmann unnachgiebig auf die Beantwortung seiner Frage. Ich hätte nun einfach zugeben müssen, geschlafen zu haben, und der Fall wäre wohl in Ordnung gewesen. Töricht und unbedacht redete ich stattdessen einfach so hin: „Weil mir die Frage zu leicht ist!“

„So beantworten Sie sie doch!“

Ich kannte die Frage überhaupt nicht.

„Nun, wer ist der Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht?“

„Generalfeldmarschall Werner von Blomberg“, antwortete ich. Ein lautes Gelächter meiner Klassenkameraden scholl mir entgegen. In der Morgensendung des Rundfunks am 5. Februar, als ich gegen die Schneemassen ankämpfte, war bekannt gemacht: „Generalfeldmarschall von Blomberg ist entlassen und der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hat den alleinigen Oberbefehl übernommen.“

„Adolf Hitler ist der neue Oberbefehlshaber,“ beantwortete der Studienrat die von ihm gestellte Frage selbst. Hohnlächelnd und aufgeputscht lustig fuhr er fort: „Zu leicht die Frage! Zu leicht die Frage!“ Dabei sprang er mich provozierend vor mir hin und her.

In einem Anflug von Unmut und Ärger redete ich flapsig so dahin: „Und im übrigen interessiert mich das alles überhaupt nicht. Mir ist das völlig egal.“

Augenblicklich wich die provokante Heiterkeit aus dem Gesicht des Dr. Wüstmann und verwandelte sich zu einer bösenartigen bedrohlichen Grimasse: „So! Sie interessiert überhaupt nicht, daß unser Führer und Reichskanzler Adolf Hitler nunmehr auch den Oberbefehl über die Deutsche Wehrmacht übernommen hat?! Das ist die Spitze der Unverfrorenheit. So etwas gehört von unserem ehrwürdigen Gymnasium verwiesen. So etwas ist unwürdig, überhaupt zu einer Abiturprüfung zugelassen zu werden. Ich werde dafür sorgen, daß sie relegiert werden.“ Zugleich wurde er handgreiflich, packte mich beim Rockkragen, zog mich aus der Bank heraus und schubste mich vor sich hertreibend, zur Klassentür hinaus.

Da stand ich auf dem Flur und dachte über meine Dummheit nach. Zum Ende der Schulstunde betrat ich wieder das Klassenzimmer und entschuldigte mich, erschöpft gewesen und geschlafen zu haben, wobei mir wohl auch einige Tränen über die Backen rollten. Aber Dr. Wüstmann blieb hart und kalt und nahm keine Entschuldigung an: „Sie sind entlarvt“, schrie er. „Da nützt auch kein Heulen mehr. Sie fliegen von unserem Gymnasium. Dafür sorge ich ganz allein. Das Abitur können Sie in den Mond schreiben.“

Zu Haus angekommen sagte mein Vater zu dem Bericht des Vorgefallenen: „Kein Brei wird so heiß gegessen wie man ihn kocht.“ Doch ein telefonischer Anruf bei dem Studiendirektor Prof. Dr. Walter brachte keine Lösung. Er gab seiner Besorgnis Ausdruck: Die hier vorliegende Meldung des Herrn Dr. Wüstmann ist so schwerwiegend und schlüssig, daß ich sie nicht einfach unter den Tisch fallen lassen kann, ohne um meine Stellung hier bangen zu müssen.“

Da half nichts, mein Vater mußte einen letzten Trumpf ausspielen. Er war in Jahr 1925 gutgläubig in die damals noch unbedeutende NS-Partei eingetreten. Inzwischen hatte er an der seinen Vorstellungen widersprechenden Entwicklung ein ernsthaftes Aber gefunden. Als bewußter Vertreter der „Bekennenden Kirche“ sah er sich Anfeindungen von NS-Parteiorganen ausgesetzt. Aber er war offiziell immer noch Träger des „Goldenen NS-Parteiabzeichens“.

Mein Vater meldete seinen Besuch bei dem Studiendirektor an und erschien bei ihm mit einem „Goldenen NS-Parteiabzeichen“ am Revers: „Entweder die leidige Angelegenheit wird hier heute gütlich beigelegt oder ich werde morgen in Hannover hei dem Kultusminister Rust vorstellig. Dort wird dann zu klären sein, welche Rolle der heutige Studienrat Dr. Wüstmann nach seiner Entlassung aus russischer Gefangenschaft und seinen Eintritt in die Rote Armee dort gespielt hat?“

Bei diesem Stand der Dinge zog Studienrat Dr. Wüstmann seine Meldung augenblicklich zurück. Meinem Abitur stand am 18. Februar 1938 nichts mehr im Wege.

Im Grunde genommen war Studienrat Dr. Wüstmann ein armseliges, bedauernswertes „Würstchen“. Als Berufsoffizier der Kaiserlichen Artillerie war er 1914 in den Krieg gezogen und schon sehr bald in russische Gefangenschaft geraten. Mehrere Jahre hatte er dort unter menschenunwürdigen Zuständen zugebracht, wie er zuweilen im Unterricht berichtete. Er verschwieg allerdings dabei, daß er seine Entlassung mit einer zweijährigen Verpflichtung als Artillerie-Offizier der Roten Armee erkauft hatte. Nach Hitlers Machtübernahme versuchte er diesen dunklen Punkt in seiner Vita als fanatischer NS-Parteianhänger zu überspielen. Seine beiden Söhne verlor er im Kampf gegen die Rote Armee.


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