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12.07.08 / Wo die Olympioniken segeln / Die diesjährigen Spiele sollten Anlaß sein, sich der Wurzeln Tsingtaus zu erinnern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-08 vom 12. Juli 2008

Wo die Olympioniken segeln
Die diesjährigen Spiele sollten Anlaß sein, sich der Wurzeln Tsingtaus zu erinnern
von Martin Schmidt

Bei den vor der Tür stehenden Olympischen Spielen vom 8. bis 24. August in der chinesischen Hauptstadt Peking werden die Segelwettbewerbe in der nur gut eine Flugstunde von der Landeshauptstadt entfernten Küstenstadt Tsingtau (Qingdao), ausgetragen, einer der ganz wenigen Badeorte der Volksrepublik. Das Wassersportdomizil verdient aus deutscher Sicht Beachtung, weil es Verbindungen gibt, die weit über die Tatsache hinausreichen, daß das schleswig-holsteinische Kiel 2004 ein Programm gestartet hat, mit dem auf verschiedenen Ebenen Segel-Know-how ins Reich der Mitte transferiert wurde.

Die Millionenstadt Tsingtau bildete noch vor 100 Jahren das Zentrum der deutschen Kolonie Kiautschou. Ein Erbe, das vor allem in architektonischer Hinsicht augenfällig geblieben ist, prägen doch die zahlreichen wilhelminischen Bauten der Jahrhundertwende das moderne Tsingtau. Die geschichtlichen Wurzeln dieser Spuren liegen in einer Haltung begründet, wie sie im kleindeutschen Kaiserreich in der Forderung des Großadmirals Tirpitz zum Ausdruck kam: „Sollte der deutsche Handel immer mehr aufhören, ein Zwischenträger zwischen englischen und chinesischen Erzeugnissen zu sein und deutsche Waren auf den asiatischen Markt werfen, so bedarf es eines Geschwaders und eines eigenen Hongkong …“ Erst sehr spät wurden die deutschen Ambitionen im Land des Drachens Wirklichkeit, nämlich erst, nachdem sich alle anderen imperialistischen europäischen Großmächte plus Japan ihre Stützpunkte im dahinsiechenden chinesischen Kaiserreich bereits gesichert hatten. Doch China ist groß, und in der Nordprovinz Schantung (Shandong) – der Heimat des Konfuzius – ließ sich noch ein Fleckchen finden: Kiautschou mit Tsingtau, der späteren „deutschen Stadt und Festung am Gelben Meer“.

Die Rahmenbedingungen der Expansion waren nicht unbedingt vorteilhaft, da die Kiautschou-Bucht außerhalb der damals bevorzugten Seerouten lag. Das Fischerdorf Tsingtau erschien als unbedeutendes Nest, zu dem sich im Umland rund 300 ebenso verschlafene wie verschmutzte Dörfer gesellten. Die Masse der Bewohner des dichtbesiedelten Landstrichs, dessen Größe in etwa derjenigen Hamburgs entsprach, fristete als Klein- und Kleinstbauern ein kümmerliches Dasein. Diesen eher deprimierenden Fakten standen aber auch positive Eigenschaften gegenüber: Die Wassertiefe der Bucht machte sie für tiefgehende Schiffe und nach entsprechender Ausbaggerung zur Anlage eines großen Hafens geeignet, im Hinterland gab es reiche Kohlevorkommen, und politisch gesehen lag die Region weit genug von den Interessensphären anderer Großmächte entfernt und eröffnete wegen ihrer Nähe zu Südjapan und Korea günstige strategische Perspektiven.

Die deutsche Kolonialgeschichte in China war besonders eng mit der christlichen Mission verknüpft. Auf die Ermordung von zwei deutschen Missionaren im Jahr 1897 antwortete das Reich mit der widerstandslosen Besetzung der Kiautschou-Bucht durch ein maritimes Landungskorps am 14. November desselben Jahres. Die offizielle Inbesitznahme folgte im März 1898 und wurde in Peking gegenüber dem Mandschu-Hof vertraglich für „vorläufig“ 99 Jahre bestätigt.

In den Augen der breiten Bevölkerung des Deutschen Reiches war Kiautschou trotz oder gerade wegen des mythenumrankten Boxeraufstandes vielleicht der populärste deutsche Überseebesitz. Denn neben der zum Heldenepos stilisierten Niederschlagung des Chinesenaufstands, an der deutsche Truppen entscheidenden Anteil hatten, entwickelte sich vor allem der Aufbau von Tsingtau zu einer Erfolgsgeschichte, die bis heute internationalen Respekt hervorruft. Die einzige Stadtgründung Deutschlands auf asiatischem Boden erlebte eine außergewöhnlich rasche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung. Schon bald nach Gründung der Kolonie entstanden eine Eisenbahn und eine angesehene deutsch-chinesische Hochschule für Spezialwissenschaften. Tsingtau wurde als militärisch gesicherte Reißbrettstadt mit einem Europäer-, einem Chinesen- und einem Geschäftsviertel regelrecht aus dem Boden gestampft, ohne daß es – dank einer vorausschauenden Landordnung – zu Grundstücksspekulationen kam wie im Fall des britischen Hongkongs. So erhielt die Handels- und Marinestadt in kurzer Zeit eine nach Funktionen gegliederte Raumstruktur: Wohngebäude, Arbeitsstätten, Bildungseinrichtungen, Krankenversorgung, Freizeiteinrichtungen und Versorgungssysteme hohen Standards. Der Bauboom ließ bis zum Ersten Weltkrieg eine schmucke wilhelminisch geprägte deutsche Stadt in China entstehen – mit baumbe­standenen schachbrettartig angelegten Straßen, roten Ziegeldächern und kaisergelben Fassaden. Die 1910 in malerischer Lage eingeweihte evangelische Chri­stus­kirche wurde zum Wahrzeichen.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg ließ sich mit Recht behaupten, daß das Ziel, ein Schaufenster deutscher Leistungsfähigkeit in Ostasien einzurichten, erreicht war. Als der Revolutionär und Kuomintang-Gründer Sun Yat-sen Tsingtau besuchte, erklärte er es zum Modell für die chinesische Stadt der Zukunft und Deutschland zum Vorbild für die Schaffung eines modernen Chinas. Die auf dem Boden des Pachtgebiets lebenden Einheimischen blieben chinesische Staatsbürger, standen jedoch unter dem „Schutz“ des Reiches und dessen Gouverneur Truppel. 1913 bestand die Stadtbevölkerung Tsingtaus aus 2400 Soldaten der deutschen Garnison, 53312 Chinesen, 2069 Europäern und Amerikanern, 205 Japanern sowie 25 anderen Asiaten.

Eine besondere Rolle nahm Kiautschou auch während des Ersten Weltkrieges ein, zumal der der Marine unterstellte Flottenstützpunkt Tsingtau das strategisch wichtigste Verteidigungsobjekt des deutschen Kolonialreiches war. Knapp 5000 reichsdeutsche und österreichische Soldaten standen einer weit überlegenen japanischen Streitmacht gegenüber, die von britischen Verbänden unterstützt wurde und über eine ungeheure Feuerkraft verfügte. Doch erst nach monatelanger erbitterter Gegenwehr konnten am 7. November 1914 ungefähr 64000 Japaner die deutschen Verteidigungsstellungen stürmen und die Kolonie zur Kapitulation zwingen.

Die deutschen Verteidiger Kiautschous gelangten in japanische Kriegsgefangenschaft, wo man sie in mehreren Lagern unterbrachte und teilweise erst 1920 freiließ. Die bekanntesten Lager hießen Matsuyama und vor allem Bando auf der Insel Shikoku. Dessen vergleichsweise großzügige Leitung ließ rege Aktivitäten der Lagermannschaft zu, was in geistig-musischer Hinsicht weitreichende Folgen für die Verbesserung der japanisch-deutschen Beziehungen hatte. Während der etwa 32 Monate währenden Gefangenschaft in Bando wurden von den Insassen über 100 Konzerte und musikalische Vortragsabende veranstaltet sowie Dutzende Theaterstücke und Unterhaltungsprogramme aufgeführt. Musikalischer Höhepunkt und bleibendes Vermächt­nis war die japanische Erst­aufführung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie am 1. Juni 1918, die heute in vielen japanischen Städten traditionell zu den Neujahrsfeierlichkeiten angestimmt wird. Einen bedeutsamen Beitrag zur Bekanntmachung deutscher Kultur leisteten die Häftlinge des weiteren durch umfangreiche Ausstellungen, die sich in erster Linie an Besucher außerhalb des Lagers richteten. Im März 1918 gab die Gemeinde Bando den Gefangenen sogar öffentliche Räume, in denen für einen Monat die „Ausstellung für Bildkunst und Handfertigkeit“ gezeigt wurde. Die Exponate beinhalteten unter anderem Zeichnungen, Gemälde, Metall-, Holz- und Handarbeiten, Theaterrequisiten und -kostüme, Musikinstrumente sowie deutsches Essen. Stolz verzeichneten die Insassen die Zahl von 50095 Besuchern, darunter etliche Schulklassen.

Die Kolonie Kiautschou blieb laut Versailler Vertrag zunächst in japanischer Hand, ehe sie am 10. Dezember 1922 an China zurückgegeben wurde. Danach fiel Tsingtau in einen langen Dornröschenschlaf, ehe die „deutsche Stadt“ seit der Öffnung der Volksrepublik in den späten 70ern einen neuerlichen rasanten Ausbau erlebte. Mit ihrem Tiefseehafen ist sie von großer Bedeutung für die ölverarbeitende Industrie und den Güterverkehr der gesamten Halbinsel Schantung. Tsingtau besitzt den drittgrößten Hafen Chinas und den neuntgrößten der Erde.

Noch bis in die 90er Jahre hinein mußten viele alte Kolonialgebäude unschönen Neubauten weichen, da sie als Schandmal der Fremdbestimmung galten. Daß die charakteristischen wilhelminischen Häuser mit ihren roten Dächern nicht ganz dem „ehernen Prinzip der Entwicklung“ und den dazugehörigen „Bauwerken der äußeren Erscheinung“ zum Opfer fielen, ist insbesondere dem seinerzeitigen Bürgermeister Yu Zhengsheng zu verdanken, der für die Altstadt einen Baustopp verordnete und die weitere Entwick­lung der Neustadt auf die grüne Wiese verlagerte. Es gibt aber auch einen engagierten Verein, der sich liebevoll um die Erhaltung der kolonialen Bausub­stanz kümmert. Obwohl das vor 100 Jahren gerühmte einzigartige Panorama der Stadt durch Hochhausbauten teilweise zerstört wurde, zeugen beispielsweise die evangelische Kirche und Teile des deutschen Bunkersystems, das man besichtigen kann, unübersehbar von der besonderen Historie. Die heute weltweit agierende einstige Germania-Brauerei ist mittlerweile als sehenswertes Museum mit Übergang in den modernen Teil der Abfüllanlage zu besichtigen, und die ehemalige Gouverneursresidenz fungiert ebenfalls als Museum, mit Originalmöbeln aus Stuttgart und Fotografien aus der Kolonialzeit.

In späteren Jahren nutzte man die Gouverneursvilla als Gästehaus, in dem sogar der rotchinesische Führer Mao Tse-tung 1956 mehrere Monate zubrachte. Ihm folgten Staatsgäste wie Ho Chi Minh oder Prinz Sihanuk. Nicht nur Mao, auch dessen Widersacher Tschiang Kai-schek hatte vorübergehend in Tsingtau residiert und sich dafür das in Strandnähe gelegene „Blumensteinhaus“ auserwählt. Heute dient es ebenfalls als Museum; frisch verheiratete Paare wählen es gern als romantischen Hintergrund für ihre Hochzeitsfotos.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele wurden in der Altstadt Tsingtaus zahlreiche Sanierungsarbeiten durchgeführt, deren Umfang allerdings bei weitem nicht an das Bauprogramm in der maroden Altstadt von Peking heranreicht. Dort ließen die Behörden nach Angaben der Zeitung „Beijing News“ sage und schreibe etwa 10000 alte Häuser entlang von 40 engen Gassen, den sogenannten Hutongs, abreißen und originalgetreu wiedererrichten. Alte Ziegelsteine und Dachpfannen fanden bewußt eine Wiederverwendung, zumal sich in der Volksrepublik China allmählich eine veränderte Haltung zur bislang als fremd empfundenen Denkmalspflege durchsetzt. Der ökonomische Fortschritt geht auch in den Köpfen der herrschenden Kommunisten nicht mehr wie selbstverständlich mit der Zerstörung des kulturellen Erbes einher. Dieses neue Denken gereicht nicht nur Tsingtau mit seinen deutschen Spuren zum Vorteil, ist aber dort besonders beeindruckend umgesetzt worden.

Foto: Christuskirche: Das evangelische Gotteshaus wurde zum Wahrzeichen Tsingtaus.


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