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26.07.08 / Jeder fünfte kam aus dem Osten / Ausstellung zum »Aufbau West – Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-08 vom 26. Juli 2008

Jeder fünfte kam aus dem Osten
Ausstellung zum »Aufbau West – Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder«

Der „Aufbau Ost“ provoziert seit Jahren politische Dis-kussionen. Was viele nicht wissen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlief der Transfer in entgegengesetzter Richtung. Arbeitskräfte, Know-how und Unternehmergeist aus dem Osten trugen maßgeblich zum hiesigen Wirtschaftswunder bei. Das zeigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bis zum 21. September in der Ausstellung „Aufbau West“ in seinem Ziegeleimuseum in Lage (Kreis Lippe). Die Ausstellung war 2005/06 in der Zentrale des LWL-Industriemuseums in Dortmund und 2007 im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen zu sehen.

Über zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen nach 1945 in die westlichen Besatzungszonen. „Aufbau West“ nimmt ihre Leistungen und Erfahrungen in den Blick. Schwerpunkt ist die Entwicklung in Nord-rhein-Westfalen, wo Ende der 1950er Jahre fast jeder fünfte Einwohner aus dem Osten kam.

50 Zeitzeugen hat das Ausstellungsteam befragt, 800 Exponate zusammengetragen. Das Spektrum reicht von der Anstecknadel bis zum Drahtwebstuhl, vom Streichholzbriefchen bis zum Bahnwaggon, vom historischen Radiospot bis zum Heimatfilm. Projektleiterin Dr. Dagmar Kift: „Wir zeigen keine abstrakte Industriegeschichte, sondern stellen Menschen in den Mittelpunkt.“ Die Ausstellung macht deutlich, wie sich die Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen einlebten und gemeinsam mit den Einheimischen den oft schwierigen Neuanfang bewältigten.

Ein Stimmengewirr unterschiedlicher Sprachen sowie Fotos von zerstörten Städten im Ruhrgebiet und ländlicher „Idylle“ im Münsterland empfangen die Besucher im Ausstellungsgebäude. „Die Ankunft im Westen bedeutete für die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen zwar Sicherheit, aber willkommen waren sie in der Regel nicht“, faßt Dr. Dagmar Kift ein Ergebnis der Befragung zusammen. Die durch Flucht und Lageraufenthalte gezeichneten Menschen habe niemand aufnehmen und durchfüttern wollen. Vor allem auf dem Land war gesellschaftliche Ausgrenzung die Folge.

Anders in den großen Städten: Viele Bewohner, insbesondere des Ruhrgebiets, waren selbst in den Osten evakuiert worden und mußten von dort ebenfalls zurückflüchten. Kift: „Sie teilten viele Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen. Auch sie wurden in Notunterkünften oder ehemaligen Zwangsarbeiterlagern untergebracht und mußten viel Improvisationstalent aufbringen, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren.“ Ein Etagenbett aus der Notunterkunft, Fotos, Dokumente und hinübergerettete Dinge aus der alten Heimat veranschaulichen das Thema. Private Leihgeber haben Erinnerungsstücke beigetragen – darunter ein Plüschaffe, der die neunjährige Susanne Wiesner auf der Vertreibung aus Schlesien tröstete.

Die meisten Vertriebenen wurden zunächst in den ländlich geprägten Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern untergebracht. Nach 1948 brachten mehrere Umsiedlungsaktionen Hunderttausende nach Nordrhein-Westfalen, das sich zum Bundesland mit dem größten Flüchtlingsanteil entwickelte. „Hier ersetzten die Menschen aus dem Osten die in der Montan- und Bauindustrie fehlenden Arbeitskräfte. In der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Glasbranche und im Maschinenbau siedelten sie als Unternehmer neue Produktionszweige an“, erläutert die Projektleiterin. Die Ausstellung stellt Beispiele aus diesen Branchen vor.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trug der Bergbau maßgeblich zum Wiederaufbau der Wirtschaft bei – obwohl ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften die Produktion hemmte. Militärregierung, Unternehmen und Arbeitsämter warben deshalb gezielt Menschen aus den Flüchtlings-Aufnahmeländern an. Bis 1954 wurden rund 800000 Bergleute neu eingestellt. Sie kamen in Städte, die der Zweite Weltkrieg in Trümmerlandschaften verwandelt hatte. Der Wiederaufbau stellte daher vor allem die Bauindustrie vor große Herausforderungen, weil Rohstoffe fehlten und die Infrastruktur zerstört war. In den Folgejahren fanden viele Flüchtlinge und Vertriebene in der Bauindustrie Beschäftigung – wenige als Unternehmer, viele als Arbeiter wie Gerhard Lorenz aus Voigtsdorf (Niederschlesien), der als Zwölfjähriger nach Flucht und Vertreibung mit seiner Familie in Bocholt (Kreis Borken) ankam:  „Auf Gemeindefesten konnte es schon zu Entgleisungen von Einheimischen kommen, die die Vertriebenen beschimpften und auf Distanz hielten“, erzählt der heute 69jährige.

„Aufbau West – Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“, bis 21. September, LWL-Industriemuseum, Ziegeleimuseum in Lage, Sprikernheide 77, Geöffnet Di. bis So. 10 bis 18 Uhr

Foto: Neubeginn: Bau eines Wohnhauses in der Barkhofsiedlung in Nordwalde (1952)


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