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02.08.08 / Auch im Mittelalter wurde gemurmelt / Bei dem, was Kindern Spaß macht, zeigen sich auffallende Kontinuitäten über die Jahrhunderte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-08 vom 02. August 2008

Auch im Mittelalter wurde gemurmelt
Bei dem, was Kindern Spaß macht, zeigen sich auffallende Kontinuitäten über die Jahrhunderte
von Klaus J. Groth

Mit einem geschickten Fingerschnipp rollt die Murmel ins Loch, und wer das im rechten Augenblick schafft, der hat den ganzen Pott gewonnen. So murmeln, marmeln oder pickern Kinder – je nach Gegend – überall und zu allen Zeiten. Murmeln sind Glaskugeln unterschiedlicher Stärke mit einem Kern aus farbigem Glas. Heute. Gerade gestern noch waren sie kleine einfache Tonkugeln mit farbigem Überzug. Viele können sich noch erinnern, mit den Tonkugeln gespielt zu haben. Immer war der Umgang mit ihnen ein Kinderspiel.

Auf einer breiten Spur von Murmeln gelangen heute Archäologen weit zurück in die Vergangenheit bis zu den Kinderspielen des Mittelalters. Zu Tausenden finden sich die Kugeln aus gebranntem Ton bei Ausgrabungen, zwischen 1300 und 1500 von Kindern weggeschnippst, vergessen. Seit es auch dem neuzeitlichen Hochmut dämmerte, das Mittelalter könne nicht ausschließlich Teufelsangst und Hexenwahn gewesen sein, werden dessen Kinderspiele neu ent­deckt.

Gefunden werden zur Überraschung der Forscher die bekannten Spiele. Was Kindern heute Spaß macht, vergnügte Mädchen und Jungen schon vor mehr als 500 Jahren. Formen und Materialien der Spielgeräte änderten sich – in vielen, nicht in allen Fällen –, aber Spiel und Spaß blieben die gleichen.

Der niederländische Maler Pieter Bruegel hat mit der ihm eigenen Liebe zum detailreichen Erzählen 1560 ein Bild mit dem Titel „Kinderspiele“ gemalt Darauf geht es ähnlich zu wie heute auf einem Pausenhof, da wird gerangelt und getobt, proben Jungen ihre Kräfte bei Reiterspielen, springen Mädchen Hinkefuß und hüpfen übers Seil, rutschen Bengel übers Geländer und haben ihren Spaß beim Bockspringen.

Bilder wie das von Pieter Bruegel, Darstellungen auf Altären und Glasfenstern sind für uns die besten Zeugnisse der Spiele der Vergangenheit. Die Welt des Kindes, und vor allem die Welt des spielenden Kindes, entging über Jahrhunderte der Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber und Chronisten. Kindheit, das gilt als vorübergehender Zustand, ohne Einfluß auf den Fortgang der Welt. Darum wurde wenig darüber berichtet, und die spärlichen Spuren, die Kinder hinterließen, blieben unbeachtet. Erst in jüngerer Zeit widmen sich Historiker verschiedener Fachrichtungen aufmerksamer diesem Thema. Doch obwohl sie sich auf wenig erforschtem Terrain bewegen, wirkt es seltsam vertraut. Was die Wissenschaftler finden, das kennen sie schon – aus ihrer persönlichen Vergangenheit. Denn die Spiele blieben, nur die Regeln änderten sich gelegentlich mit der Form der Spielgeräte.

Für alles, was Archäologen bisher bei Ausgrabungen an mittelalterlichem Spielzeug fanden, gibt es im Kinderzimmer des 21. Jahrhunderts ein Pendant: Reiter, Ritter, Schwerter, Lanzen, Äxte, Puppen, Bälle, Kreisel, Rasseln, Trommeln, Flöten, Schiffchen, Wür­fel, Spielsteine. Alles bekannt und mit allem wird heute noch gespielt

Wissenschaftler, die mit Fleiß und Ernst den Kinderspielen auf die Spur kommen wollen, haben sicherlich dennoch ein Problem. Nur wer der unbefangenen Phantasie eines Kindes freien Lauf lassen kann, versteht das Spiel. Aber kann ein Erwachsener das? Und welcher Wissenschaftler (der ernstgenommen werden möchte) dürfte ein Stück vermodertes Wurzelholz als den mittelalterlichen Spieldrachen eines Kindes deuten? Wenn er’s dürfte, wäre die Wissenschaft ein Kinderspiel. Kindliche Phantasie benötigt allenfalls Hilfsmittel zum Spiel, alles kann die Gestalt annehmen, wozu es gedacht wird. Wissenschaft aber braucht Fakten. So sind der Erforschung mittelalterlicher Kinderspiele Grenzen gesetzt.

Wer sich an die Fakten hält, kann nachweisen, daß das mittelalterliche Kind den Lärm ebenso liebte wie der Nachwuchs heute. Und die Erwachsenen beschwerten sich vor mehr als 500 Jahren ebenso wie heute darüber. Nur daß damals der Zorn jenen Knaben galt, die am Schlachttag die Schweinsblase stahlen, sie mit Erbsen füllten, um so „Gerümpel“ zu erzeugen. Mehrheitlich allerdings waren die Lärminstrumente der Kinder von Erwachsenen eben zu dem Zweck gebastelt worden, die Trommeln und Pfeifen aus Knochen oder aus Ton, als Tier geformt. Die Knochen von Schweinen und Schafen wurden in der Mitte durchbohrt, eine Schnur hindurch gezogen, die man bis auf Spannung festdrehte. Ließ man den Knochen los, schnurrte er durch die Luft.

Wenn die Kinder im Mittelalter so waren, wie heute die Kinder sind – und warum sollen sie es nicht gewesen sein, trotz aller nachfolgenden pädagogischen Experimente? –, dann machten die Jungen den Lärm, während die Mädchen stillvergnügt mit Puppen spielten. Einmalig ist bis heute der vor 40 Jahren in Lübeck gemachte Fund einer hölzernen Puppe, zu der es auf der Welt kein gleichartiges Stück gibt. Der damalige Grabungsleiter Werner Neugebauer beschrieb die Kathrin genannte Puppe so: „Dieses Figürchen hat eine Länge von 15,8 Zentimeter, davon entfallen auf den Kopf 3,7 Zentimeter und auf die Beine 6,1 Zentimeter. Es ist auf der gesamten Oberfläche seiner etwas gedrungen wirkenden Gestalt recht sauber geglättet, und an den Schultern sowie am unteren Ende der Vorderseite des Leibes sind noch flachkantige Spuren der Schnitzarbeit erkennbar ... Außer einer kräftigen Gesäßkerbe fehlen alle geschlechtlichen Merkmale.“

Kathrins Alter wird heute auf 700 Jahre geschätzt, und obgleich sie etwas abgegriffen wirkt, weil offenbar viel mit ihr gespielt wurde, besitzt sie eine erstaunliche Frische. Vermutlich war Kathrin eine Anziehpuppe.

Wenn Kathrin auch einmalig ist, allein war sie nicht. In Köln und Worms wurden Puppen aus Pfeifenton gefunden, in Süddeutschland aus Ton. In Nürnberg sind Puppenmacher bereits aus dem 15. Jahrhun­dert bekannt (und dort entstanden 200 Jahre später auch die ersten Puppenhäuser. Auch die mittelalterlichen Puppen mußte nicht ohne Ausstattung auskommen. Für Kathrin und Freundinnen gab es neben den verschiedenen Kleidern zum Wechseln auch Koch- und Trinkgefäße an Miniformat, sorgsam dem Geschirr der Erwachsenen nachgeformt.

Und die Knaben? Die Knaben spielten, wie Knaben immer spielen, aller gutgemeinten Erziehung zum Trotz. Sie kämpften, fochten, stritten und rangelten. Schwerter, Dolche und Äxte aus Holz wurden bei Ausgrabungen gefunden. Wie stark die Forscher trotz solcher Funde auf zeitgenössische Darstellungen angewiesen bleiben, zeigt sich an Steckenpferd und Wind­rädchen. Obgleich auf zahlreichen zeitgenössischen Bildern Turniere von Kindern auf dem Steckenpferd mit dem Windrädchen als Lanze dargestellt wurden, gelang es bisher weder das eine noch das andere auszugraben. In einem Aufsatz über „Spielzeug und Spielen im Mittelalter“ schreibt der Historiker Alfred Falk: „Bei den Windrädchenlanzen handelt es sich um unterschiedlich lange Stöcke oder Stäbe, an deren Ende zwei bis sechs Flügel, ähnlich Windmühlenflügel, angebracht sind. Auf vielen Bildern sieht man Knaben, Engel oder Putten mit diesen Lanzen zu gespielten Kämpfen gegeneinander antreten. Oder es werden erwachsene Narren dargestellt, die, von Kindern verspottet, mit der Lanze unter dem Arm auf einem Steckenpferd einherhoppeln.“

Ritter wurden gefunden. Kleine glasierte Tonfiguren, Ritter mit Pferd und Pferde ohne Reiter. Manche Ritter haben ein Loch in der Brust, ein gleiches Loch weisen auch Pferde auf. Weil die einfachen Steckmechanismen aus der Spielzeugkiste bekannt sind, wird vermutet, daß die Löcher zum Einlegen der Lanzen dienten. Gelegentlich sind Reiter und Pferd auch so geformt, daß der Ritter in den Sattel gesetzt werden kann. Auch dieses Modell hat sich bis heute gehalten. Teilweise wurden die Turnierpferde mit Rädern versehen, teilweise waren die Reiter mit beweglichen Gliedern ausgestattet. Auf diese Weise konnten die Kinder ihre Ritter Turniere gegeneinander ausfechten lassen.

80 Kinderspiele sind auf dem Bild von Pieter Bruegel zu erkennen, und nahezu jedes davon ist heute noch bekannt. Aber nur von den wenigsten blieben Spuren bis in die Gegenwart erhalten. Alfred Falk, der bei Ausgrabungen besonderes Augenmerk auf Spielzeug richtete, kennt die Probleme der Archäologen: „Wo sind die Reifen geblieben, mit denen verschiedene Spielvarianten möglich waren und auch gespielt wurden? Wir finden zwar immer wieder fragmentarische Faßreifen, aber daß sie Spielzeug waren, konnten wir ihnen nicht ablesen. Wo sind die Steckenpferde, die vielen, vielen Kleingeräte, wie das Propellerspiel …? Wo sind die Stelzen, Peitschen, Masken …? Vergangen, kaputt gespielt, verbrannt – oder eben noch irgendwo im Untergrund verborgen.“

Das Bild vom Mittelalter ist etwas farbiger geworden durch die Ausgrabungen des Kinderspielzeugs. Aber lebendig wird es erst durch kindliche Phantasie. Dann reiten die Ritter wieder, Puppe Kathrin freut sich über neue Kleider, der Schnurrknochen brummt, das Windrädchen dreht sich, und die Murmel rollt nach einem Fingerschnipp.

Foto: Mit Murmeln spielende Kinder: Punktierstrich um 1790


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