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09.08.08 / Selbstdemontage einer Volkspartei / Seit über einem halben Jahr befindet sich die Schweizer Regierung in ungewohnter Disharmonie

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-08 vom 09. August 2008

Selbstdemontage einer Volkspartei
Seit über einem halben Jahr befindet sich die Schweizer Regierung in ungewohnter Disharmonie
von H.-J. Mahlitz

Selbstzerfleischung – dieses gespenstische Wort geht nicht nur in Deutschland um, wo die einstmals großen Volksparteien sich von immer größeren Teilen des Wählervolkes verabschieden. Auch die Schweizer, die ja so stolz auf die Beständigkeit ihres politischen Systems sind, erleben derzeit die Selbstdemontage einer Volkspartei – und damit verbunden eine Veränderung der Parteienlandschaft mit ungewissem Ausgang. 

Der durchaus berechtigte Stolz der Eidgenossen auf ihre Musterdemokratie stützt sich vor allem auf zwei Säulen: die direkte Mitwirkung des Volkes – nach Meinung vieler Schweizer die einzig wahre Form von Demokratie – und die konstruktive Harmonie, deren sich ihre Regierung fern aller Niederungen öffentlichen Parteiengezänks befleißigt.

Seit Jahrzehnten wird in Bern die sogenannte Konkordanzdemokratie praktiziert. Regiert wird das Land von einem siebenköpfigen Bundesrat, den die vier dominierenden Parteien gemäß ihrem Stimmenanteil im Parlament beschicken. Zuletzt waren dies die konservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die Liberalen (UFL) und die Sozialdemokraten (SP) mit je zwei Ministern sowie ein Vertreter der Christlichen Volkspartei (CVP).

Traditionell ist das bürgerliche Lager etwa doppelt so stark wie das linke. Innerhalb der beiden Lager aber hat es in letzter Zeit beachtliche Verschiebungen gegeben. Am linken Rand erstarkten die Grünen und wurden zur ernsthaften parlamentarischen Opposition, während am rechten Rand die SVP zur stärksten Kraft heranwuchs. An deren Parteichef Christoph Blocher sollten sich denn endgültig die Geister scheiden.

Nach dem deutlichen Wahlsieg des betont konservativen Justizministers im Spätherbst 2007 entdeckte man in der Schweiz ein bislang kaum bekanntes, beim großen Nachbarn Deutschland hingegen altbewährtes Kampfinstrument: die Faschismuskeule. So wurde Blocher in gezielten Kampagnen als ausländerfeindlicher Rechtsradikaler diskriminiert, wobei er – wie Jörg Haider in Österreich – seinen politischen Gegnern mit unbedachten Äußerungen oft auch noch die Munition lieferte.

Im Dezember 2007 platzte die Bombe. In einer dramatischen Parlamentssitzung fiel Blocher bei der Bundesratswahl durch. Statt dessen wählte eine knappe Mehrheit von Sozialdemokraten, Christdemokraten und Grünen Blochers Partei-„Freundin“  Eveline Widmer-Schlumpf zur neuen Justizministerin. Daraufhin erklärte die SVP die Konkordanzdemokratie für vorerst beendet und sich selbst zur Opposition, obwohl sie mit Samuel Schmid ein weiteres Regierungsmitglied stellte. Letzterer trat aus der Volkspartei aus, ein Schritt, zu dem sich die fortan als Verräterin geschmähte Widmer-Schlumpf bis Juni 2008 nicht aufraffen mochte.

Womit sie die eigene Partei in die Selbstdemontage trieb. Zunächst wurde ihr Landesverband, die SVP des Kantons Graubünden, ultimativ aufgefordert, die renitente Justizministerin binnen Wochenfrist auszuschließen. Die Bündner, nicht nur wegen des Gebrauchs der rätoromanischen Sprache in der ansonsten deutsch-französisch-italienischsprachigen Schweiz als betont eigenständig bekannt, wurden ihrem Ruf als „dickschädeliges Bergvolk“ wieder einmal gerecht und ließen die Frist untätig verstreichen. Nun griff die Bundes-SVP zu größerem Kaliber und schloß gleich den gesamten Kantonalverband aus.

Seit zwei Monaten können die nunmehr politisch heimatlosen 3500 Mitglieder der einstigen Bündner SVP-Kantonalsektion zwischen zwei Neugründungen entscheiden. Die Blocher-Getreuen vom rechten Flügel präsentieren sich als Neuauflage der alten Volkspartei. Die Anhänger der Justizministerin schlossen sich zur Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) zusammen. Der Kampf wird mit harten Bandagen geführt, sinnigerweise auch mit Hilfe der Justiz. So beharken sich die beiden Neu-Parteien vor Gericht mit Plagiatvorwürfen bei der Gestaltung ihrer Internetauftritte.

Derweilen versuchen die Liberalen, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich dauerhaft als drittstärkste Kraft zu etablieren. Bislang sind sie in zwei Parteien organisiert, der Freisinnig-Demokratischen (FDP) und der Liberalen Partei der Schweiz (LPS). Seit 2003 bilden sie in den beiden Parlamentskammern Nationalrat und Ständerat eine Fraktionsgemeinschaft, 2005 bildeten sie – auch als Reaktion auf das Erstarken der Grünen – den Dachverband Union der Freisinnigen und Liberalen (UFL), Ende 2008 wollen sie sich endgültig zur Freisinnig-Liberalen Partei (FLP) zusammenschließen.

Zulauf erhoffen die liberalen Parteireformer von allen Seiten. Einerseits setzen sie auf Abtrünnige der SVP, die sich von der Selbstzerfleischung ihrer Partei abgestoßen fühlen, andererseits sehen sie auch Mitgliederpotential am linken Rand. Dort hat sich gerade eine Gruppierung von den Grünen abgespalten, die schon mit ihrem Namen – Grünliberale – signalisiert, wohin sie mittelfristig strebt.

Insgesamt zeigt sich in der Schweiz ein ähnlicher Trend wie in Deutschland: Die beiden großen Volksparteien verlieren an Boden, die kleineren Parteien holen auf.

Ob in einer neustrukturierten Parteienlandschaft das Modell einer Konkordanzdemokratie jemals noch eine Chance haben wird, bleibt dahingestellt. Um so wichtiger ist es, daß wenigstens das zweite Standbein, die starke direkte Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungen, unangetastet bleibt. „Wir sind das Volk“ – die Schweizer werden wissen, was ihnen dieser Satz wert ist.


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