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09.08.08 / Verlorenes Gedächtnis

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-08 vom 09. August 2008

»Moment mal!«
Verlorenes Gedächtnis
von Klaus Rainer Röhl

Vor kurzem starb mein bester und vielleicht einziger Freund Peter Rühmkorf. Die Klassenkameraden in seiner Dorfschule nannten ihn plattdeutsch: Pidder. Als in der Schule eines Tages die Geschichte des „Pidder Lyng, der Liekedeeler von Sylt“, nach dem Roman von Wilhelm Lobsien (1910), durchgenommen wurde, hatte er seinen Namen weg: Lyng. Er empfand ihn durchaus als Ehrennamen, war ein Leben lang Rebell gegen den Zeitgeist, unbestechlich im Widerstand. Er behielt den Namen bis zu seinem Tode, unterzeichnete damit unzählige Briefe und Postkärtchen. Als Lyng oder Lyngi. Kaum war er gestorben und unter großer Anteilnahme von 600 Freunden und Bekannten in der Hamburger Johannis-Kirche zum letzten Mal gefeiert und geehrt, da wurde er umgetauft. In der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hieß er plötzlich Lüng. An sich belanglos. Ein junger Mitarbeiter namens Christof Siemens hatte den Dichter in seinen schlimmen Krankheitszeiten besucht, um ein Interview mit dem vom Tode Gezeichneten zu machen. Dabei hatte er offenbar jemanden den überlieferten Kampf- und Spitznamen sagen hören und gab ihn nun in phonetischer Umschreibung wieder. Lüngi, der Rebell. Das letzte Wort hatte nicht mehr der Autor, sondern die Zeit. Der Name für Rühmkorf steht nun so im Internet. Eigentlich unwichtig, wie jemand sich schreibt. Namen sind Schall und Rauch. Aber wo kommen wir da hin?

Mein Freund Peter Rühmkorf starb mit 78 Jahren. Viele seiner Freunde und Weggefährten sind schon gestorben, andere werden eines Tages nicht mehr da sein. Ihre Nachkommen und neue Leser, Studenten, die vielleicht einmal das Leben von Peter Rühmkorf nachlesen, unsere Briefwechsel und Bücher lesen oder neu beschreiben wollen, werden ihn im Internet unter dem Namen Lüng finden. Vergessen, wie er sich wirklich nannte. Vielleicht nennt man in 30 Jahren die Insel auch Sült. Unwichtig?

In diesen Tagen jährt sich zum 47. Mal der Bau der Mauer in Berlin. Am 13. August 1961 wurde die Mauer um West-Berlin errichtet, der sogenannte „antifaschistische Schutzwall“ aus Stacheldraht, Beton und Stahlkonstruktionen durch Deutschland gezogen, gesichert mit Todesfallen, einem Minengürtel und auf den Mann dressierten Kampfhunden. Gelang es dennoch einem „Grenzverletzer“, die Sperren zu überwinden, gab es den Befehl, den Flüchtling zu erschießen, mit einem gezielten Todesschuß. Den Schießbefehl gaben Funktionäre des Staates, die nach einem halbherzigen Versuch, sie dafür wegen Anstiftung zum Mord anzuklagen, heute unangetastet unter uns leben und meistens sogar Renten erhalten. Schlimm. Aber schlimmer ist das Vergessen der Nachgeborenen. Eine staatlich geförderte Vergeßlichkeit.

Kürzlich wurden Schüler gefragt, was sie noch von der Mauer wissen, die vor 47 Jahren gebaut wurde. Die Untersuchung „Soziales Paradies oder Stasi-Staat?“ führten Politologen an der Freien Universität Berlin, Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder, unter 5219 Schülern im Alter von 16 und 17 Jahren in West- und Ost-Berlin, Bayern und Nord-rhein-Westfalen durch. Die Expertise wurde vor kurzem in Berlin vorgestellt.

Viele Schulen im Osten Berlins und in Brandenburg hatten die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern abgelehnt. Das Ergebnis darf dennoch als repräsentativ gelten. Möglicherweise könnten die Ergebnisse sogar noch schockierender ausgefallen sein, wenn alle mitgemacht hätten.

Schroeder zufolge ist vielen der Schüler der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur unbekannt.

Ein Teil der Befragten wußte nicht, wer am 13. August 1961 die Mauer gebaut hat. Einige tippten eher auf den Westen. Ein anderer Teil gab an, die Amerikaner hätten die Mauer gebaut. Ein nicht unerheblicher Teil war der Ansicht, daß die Mauer zum Schutz der DDR gebaut worden sei! Die Stasi war für die meisten normal. Auf den Satz „Die Staatssicherheit war ein normaler Geheimdienst, wie ihn jeder Staat unterhält“ antworteten nur 45 Prozent der ostdeutschen Schüler mit Nein – ganz normal? Ein besonders verblüffendes Ergebnis, wenn man die große Verbreitung des preisgekrönten Filmes „Das Leben der Anderen“ berücksichtigt. Erschienen den Jugendlichen die dort gezeigten Verbrechen normal? Die Schüler im Osten der Stadt Berlin wußten teilweise nicht, daß es in der DDR keine freien Wahlen gab.

Werden unsere Schüler schlecht informiert, sind die Lehrpläne falsch? Wo es um Macht und Unterdrückung gehe, versagten die meisten Lehrpläne, meinten die Wissenschaftler vom „Forschungsverbund SED-Staat“ an der Freien Universität Berlin. In welchem Maße die SED Staat, Wirtschaft und Gesellschaft lenkte und kontrollierte, werde nirgends deutlich.

Beinahe jeder zweite ostdeutsche Jugendliche und sogar 66,5 Prozent der westdeutschen Schüler meinten, die DDR sei keine Diktatur gewesen! Über die Diktatur des Nationalsozialismus werden die Schüler in allen Bundesländern sozusagen pausenlos informiert. Jeder zweite Tag ein Gedenktag. Ein Vergleich beider Diktaturen – im Sinne des Totalitarismus – findet offenbar in keinem Lehrplan statt.

Obwohl es in Thüringen, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) herausgefunden hat, Lehrpläne und Unterrichtsmaterial gibt, die die totalitären Strukturen der DDR mit denen der Bundesrepublik vergleichen, werden diese Materialien (Fluchtgeschichten, Terror und Tod durch Zwangsaussiedlungen und sogar Berichte über das sowjetische Speziallager Nr. 2 im ehemaligen KZ Buchenwald) wenig angenommen, und Systemvergleiche zwischen Ost und West in den Lehrplänen durchzusetzen sei bei Politikern und Wissenschaftlern „sehr umstritten“ gewesen, berichtet die Leiterin des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung und Medien Siegrid Biskupek der „FAZ“.

Wieviel schwieriger und „umstrittener“ wird es dann wohl sein, die Braune und die Rote Diktatur zu vergleichen und zum Gegenstand des Unterrichts zu machen? Wird das in der ganzen Welt in Millionenauflage verbreitete „Schwarzbuch des Kommunismus“ je zum Unterrichtsstoff?

Eine Untersuchung der Universität Jena über das positive DDR-Bild der Thüringer Schüler ergab, daß ein Drittel der Heranwachsenden angab, in der Schule sei die DDR überwiegend positiv dargestellt worden. Es war nicht alles schlecht. Erziehung zum treuen Wähler der Linken an den Schulen – unaufhaltsam? Die wichtigsten Vermittler des geschönten DDR-Bildes waren allerdings nach wie vor die Eltern, in deren Erinnerung die Honecker-Diktatur zunehmend verklärt wird, je länger der Fall der Mauer her ist.

Die Mehrzahl der untersuchten Schüler, Gymnasiasten und Hauptschüler verfügt heute über einen Zugang zum Internet und kann gut damit umgehen, etwa beim Herunterladen (Downloaden) von Rockmusik, Pornofilmen oder Klingeltönen oder zum Bestellen von Handys, Spielekonsolen, Kleidung und anderen Gegenständen oder Leistungen bei  „eBay“. Die totalitären Diktaturen gehören nicht zu den bevorzugten Interessengebieten der jungen Internetsurfer. Unwichtig?

Eher noch dürfte eine andere Seite der deutschen Misere in diesem Herbst die Jugendlichen in Ost und West faszinieren. Am 16. September hat Bernd Eichingers Film über die Terroristen der sogenannten Roten Armee Fraktion (RAF) in München Premiere, ein Film, der nicht weniger eindringlich sein dürfte als Eichingers letzter großer Erfolg „Der Untergang“. „Die RAF“ erzählt die Geschichte vom Leben und Tod der Terroristen vor 40 Jahren. Doch noch bevor der Film angelaufen ist, beginnen die Überlieferungen fragwürdig zu werden, die Gerüchte ins Kraut zu schießen.

Die klammheimliche Bewunderung für die Märtyrer der RAF wird bleiben. Und die offene Schadenfreude über den angerichteten Schaden am demokratisch verfaßten Staat. Und die Untoten werden weiter herumspuken in den Seelen neuer Generationen von Schülern und Studenten, und in ihren Wohnstuben werden Poster der toten Häftlinge hängen, Zeugnisse einer Verehrung der Gewalt. Alles vergessen?

www.klausrainerroehl.de

Foto: Exkursion ins KZ: Während die Lehrpläne die Erinnerung an die NS-Zeit wachhalten, gerät die DDR in Vergessenheit.


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