© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-08 vom 09. August 2008

Wie ein Schmetterling
Gemeinsam eintreten für die schwächeren Mitschüler
von Gabriele Lins

Es war große Pause. Quirliges Leben. Der Schulhof quoll fast über davon. Hanna Mertens, die Lehrerin der Klasse 5 c, biß herzhaft in ihr Brötchen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich einige ihrer Schüler aus der C zusammenrotteten. „Ach, jetzt haben sie den Willi schon wieder in der Mangel!“ sagte sie ärgerlich. Eine Kollegin sprach sie an. Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile, bis ein Junge mit allen Anzeichen des Schreckens auf sie zulief. „Was ist denn los?“ fragte Hanna. Kevin zeigte auf ein Nebengebäude der Schule. „Sehn Sie mal, da oben!“ Die Blicke der Lehrerin wanderten zum Dach des Häuschens, in dem der Hausmeister wohnte. „Himmel!“ entfuhr es ihr.

So schnell sie konnte, lief sie zum Ort des Geschehens. Dort oben, nahe der Regenrinne, stand Willi mit hängenden Armen, hinter und neben ihm erkannte sie drei oder vier seiner Mitschüler. Sie fuchtelten mit den Händen und riefen: „Flieg endlich, Schmetterling. Los, flieg!“

Willi schüttelte heftig den Kopf. „Laßt mich in Ruhe!“ Sein Gesicht war angstverzerrt. „Hilfe!“ Hanna blieb der Atem weg, denn es sah so aus, als wollten sie ihn hinunterstoßen.

Willi war ein wenig anders als andere. „Der tickt nicht richtig“, sagten seine Mitschüler frei heraus und hatten ihren Spaß mit ihm. Manchmal übertrieben sie es auch, wie jetzt gerade.

„Hört sofort mit dem Unsinn auf und kommt herunter!“ schrie sie mit Donnerstimme hinauf, „aber ein bißchen plötzlich!“ Die Schüler wußten, daß mit ihrer Lehrerin nicht gut Kirschen essen war, wenn sie sich ärgerte, deshalb ließen sie sofort von Willi ab. Im Nu standen sie alle auf dem Schulhof vor Hanna und blickten schlechten Gewissens überall hin, nur nicht in ihr Gesicht. „Wir haben doch nur Spaß gemacht“, wagte Manni eine Erklärung. Er sagte ohnehin immer alles, was er wollte, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Wieder in der Klasse baute sich Hanna, so klein wie sie war, vor ihren Schülern auf und wirkte in ihrem Zorn riesengroß auf sie. Es war ungewohnt still im Raum. „Oh Mensch, jetzt brummt sie uns eine Riesenstrafarbeit auf“, flüsterte Birgit ihrer Nachbarin zu. Aber sie täuschte sich. Die Stimme der Lehrerin klang ruhig, fast sanft: „Warum macht ihr sowas mit Willi? Das Ding eben war lebensgefährlich!“ „Der ist doch blöd!“ sagte Manni und wischte mit der Hand verächtlich durch die Luft. „Er läuft immer durch die Gegend, bewegt die Arme ganz komisch auf und nieder und grinst dabei. Er will ein Schmetterling sein und durch die Gegend fliegen, sagt er. Das ist doch hirnrissig!“ Hanna lächelte. „Ist es nicht sehr mutig von Willi, seine Gefühle zu leben? Findet ihr es wirklich schlimm, wenn er hin und wieder ein kleiner hübscher Schmetterling sein will?“ Die Kinder sahen sich kurz an, schüttelten dann die Köpfe. „Nö“, kam es hier und da bei Hanna an, „nee, eigentlich nicht.“ „Ich wollte schon mal ein Adler sein“, sagte Kevin und grinste.

„Seht ihr. Und nun erwarte ich von euch, daß ihr alle euren Mitschüler sein laßt, wie er eben ist. Er akzeptiert euch doch auch so, wie ihr seid. Und ich möchte noch etwas von euch, nämlich daß ihr ihn beschützt, wenn ihn andere bedrohen sollten. Versprecht ihr mir das?“ „Klar!“ sagte Manni kernig, und die anderen nickten.

Ein paar Tage später sah Hanna den Schüler Willi schmetterlingsselig über den Schulhof gaukeln. In seiner Nähe standen ein paar seiner Mitschüler, unterhielten sich angeregt und taten unbeteiligt, aber sie merkte, daß sie ihren Schützling nicht aus den Augen ließen. „Na“, fragte sie Willi, der gerade armekreisend vor ihr Halt machte, „bist du mit deinem Begleitschutz zufrieden?“ Der Junge strahlte. „Ist voll okay“, meinte er mit Würde.