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16.08.08 / Was in Prag die Sowjetpanzer rollen ließ / Vor 40 Jahren lief in der CSSR das romantische Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-08 vom 16. August 2008

Was in Prag die Sowjetpanzer rollen ließ
Vor 40 Jahren lief in der CSSR das romantische Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«
von Wolf Oschlies

Prazské jaro“ (Prager Frühling) heißt seit 1946 ein Prager Musikfestival, das alljährlich am 12. Mai mit Smetanas „Mein Vaterland“ eröffnet und am 3. Juni mit Beethovens 9. Symphonie beendet wird. Was 1968 in aller Welt „Prager Frühling“ genannt wurde – das romantische Experiment tschechoslowakischer Kommunisten, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen –, hieß am Ort des Geschehens „obrodný proces“, Wiedergeburtsprozeß, was die Sache besser trifft.

Die hochindustrialisierte, westeuropäisch ausgerichtete Tschechoslowakei stieß erst verspätet zum grauen Heer von Stalins Satelliten. Nach Kriegsende hatte sie als „Halbdemokratie“ überdauert, bis im Februar 1948 die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPC) in einem Putsch die Macht übernahm. Kommunistische Parteien sind immer mit leichtem intellektuellen Gepäck marschiert, aber keine war je so primitiv wie die KPC. Von dem debilen Alkoholiker Klement Gottwald geführt, betrieb sie eine brutale „Bolschewisierung“ des Landes: Die rohstoffarme, export­orientierte Republik mußte eine rüstungswichtige Schwerindustrie aufbauen, die gebildete Bevölkerung sank infolge immer neuer „Schulreformen“ auf ein halb­analphabetisches Niveau, die einst gefestigte Demokratie erlebte die schlimmsten Schauprozesse des osteuropäischen Stalinismus. Das Land verfiel rapide, Wahrzeichen des einst „goldenen Prags“ waren ungezählte Warnschilder „Pozor, pada omítka“ – Vorsicht, Putz fällt ab.

1960 legte sich die Tschechoslowakei per neuer Verfassung das Beiwort „sozialistisch“ zu, was selbst von ihren Verbündeten als peinlich empfunden wurde. Das Land war ökonomisch pleite, was immer mehr Gruppen der KPC anlasteten. In der Slowakei – per „asymmetrischem Modell“ zum Land zweiter Klasse degradiert – kam eine neue Parteiführung unter Alexander Dubcek (1921–1992) an die Macht und probte Reformen. In Prag arbeiteten Wissenschaftler wie der Ökonom Ota Sik und der Soziologe Radovan Richta an Alternativen zur akuten Krise. Studenten rebellierten, Autoren wie Ladislav Mnacko, Ludvik Vaculik und Vaclav Havel verwandelten im Juni 1967 den Vierten Schriftstellerkongreß zu einem Scherbengericht über KPC-Elend.

Am 5. Januar 1968 schlug Parteichef Novotny als seinen Nachfolger Dubcek vor, dessen Frau bei der Nachricht ahnungsvoll in Tränen ausbrach. Dabei war der Start der neuen Equipe glänzend – eingeläutet von Forstminister Josef Smrkovsky in einem kleinen Zeitungsartikel: Keinen Terror, keinen Machtmißbrauch, keine Lügen sollte es mehr geben, „alle Deformationen des Sozialismus“ beseitigt werden. Details enthielt das KPC-„Aktionsprogramm“ vom 5. April, das mit „Gleichmacherei, unkontrolliertem Machtmonopol, Meinungsdiktatur, Zentralwirtschaft“ und so weiter Schluß zu machen versprach.

Die Tschechoslowakei spürte die neue Freiheit, aber Freiheit ist wie Tod oder Schwangerschaft – ganz oder gar nicht! Wie Pilze nach dem Regen sprossen Vereine und Gruppen derer, die vom stalinistischen Regime malträtiert worden waren. Medien und Literatur ignorierten die bereits gemilderte Zensur, in Partei und Gewerkschaften bildeten sich „Opponenturen“ (um das Unwort „Opposition“ zu vermeiden). Fatal aber war der Dissenz bei Tschechen und Slowaken über „Demokratisierung und / oder Föderalisierung“. In Böhmen und Mähren stand eine progressive KPC-Führung einer konservativen Mitgliederschaft gegenüber, in der Slowakei war es umgekehrt, und die in Bratislava wieder erstarkten Betonköpfe markierten den Anfang vom Ende.

Ein Ende, das vor allem von Ost-Berlin, Warschau und Mos­kau ersehnt wurde. Die von Ul­bricht, Gomulka und Breschnew regierten Parteien, Medien und Geheimdienste gossen kübelweise Lügen, Verleumdungen und liebedienerische Erklärungen – etwa am 30. Juli einen „Brief von 99 Prager Werktätigen“ – über die Prager Reformer aus, um sie als „Konterrevolutionäre, Feinde, Verräter“ hinzustellen. Bereits im Frühsommer eskalierten die Spannungen derart, daß Ludvik Vaculik in seinem legendären Manifest „2000 Worte“ riet: „Unserer Regierung können wir zu verstehen geben, daß wir notfalls mit der Waffe in der Hand hinter ihr stehen werden.“

Spätestens ab Mai hatte Mos­kau eine militärische Intervention nicht mehr ausgeschlossen, bis zum 30. Juni veranstaltete die Sowjetarmee „Stabsmanöver“ in der Tschechoslowakei, Ende Juli und Anfang August liefen noch halbherzige Verhandlungen. In der Nacht vom 20. zum 21. August schlug der Warschauer Pakt mit einer halben Million Soldaten zu. Daß darunter auch die NVA der DDR war, wird bis heute von deren Ex-Politikern und -Militärs bestritten – die Václav Havel darum „Lügner“ nannte. Dubcek und seine Führungsgruppe wurden vom KGB nach Moskau verschleppt, daheim leistete die Bevölkerung passiven Widerstand.

Ein paar Monate währte die Hoffnung, den „Prager Frühling“ teilweise retten zu können. Das war eine Illusion: Dubcek wurde als Botschafter in die Türkei abgeschoben, neuer KPC-Chef war der Slowake Gustav Husák, ehedem Opfer des Stalinismus, nun ergebener Diener Moskaus, in dessen Auftrag er die „Normalisierung“ betrieb. Das tat er nicht ungeschickt, schloß mit der Bevölkerung vielmehr einen „Vertrag“: Bleibt unpolitisch und genießt die materiellen Vorzüge, die ihr bekommt! Das wirkte, wie ein Anwachsen der Geburtenziffern, eine Zunahme der Bautätigkeit und eine steigende Nachfrage nach neuen Autos zeigten.

Die Tschechoslowakei war Besatzungszone der „Zentralen Gruppe sowjetischer Streitkräfte“, deren rund 70 Garnisonen, die wenigsten an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland und Österreich, das Land im Würgegriff hielten. Im April 1975 schrieb Václav Havel einen Brief an Husák, in dem er die „Normalisierung“ als ein Regime des Terrors und der Angst charakterisierte, das alle Moral, Ehrlichkeit und Würde vernichtete.

Etwa 50000 Tschechen und Slowaken flohen aus der „normalisierten“ Tschechoslowakei, eine sehr intellektuelle Emigration, bereits die dritte nach 1939 und 1948. Exil-Autoren, -Zeitschriften und -Verlage sagten es bald deutlich: Der „Prager Frühling“ war romantische Aufwallung, Erinnerung an Freiheit und Demokratie, Beginn eines neuen Umgangs von Herrschern und Beherrschten. Sein institutioneller Ertrag war bescheiden, sein konzeptioneller von kurzer Dauer. Als 20 Jahre später in ganz Osteuropa die „sanften, zärtlichen Revolutionen“ den Kommunismus davonjagten, war keine davon vom „Prager Frühling“ inspiriert. Im Gegenteil: Die Rigorosität der Revolutionäre von Prag, Ost-Berlin und so weiter rührte aus der Erinnerung daran, wie rasch und rücksichtslos die Prager Reformer 1968 abserviert worden waren, da sie geglaubt hatten, mit Dialog und Verhandlungen Reformen durchsetzen zu können. In Prag gab es 1989 nur eine sichtbare Verbindung zu 1968, als Václav Havel den fast vergessenen Dubcek aus seiner slowakischen Forstbehörde holte und ihn zum Parlamentsvorsitzenden machte. Der erlag im Herbst 1992 einem Verkehrsunfall, der eher ein Anschlag war. Anfang 1993 zerbrach die Tschechoslowakei, heute künden nur noch ein paar Bildbände von den Ereignissen 1968. Und die widmen sich weniger der damaligen Politik, sondern „archivieren“ die witzigen Losungen, Graffiti, Plakate und so weiter, mit denen die überfallenen Tschechen und Slowaken gegen die Aggressoren protestierten.

Foto: Gegen die sowjetischen Tanks chancenlos: Aufgesessene Anhänger des reformsozialistischen „Prager Frühlings“


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