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23.08.08 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-08 vom 23. August 2008

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,              

liebe Familienfreunde,

immer wieder kommen in dieser schönen Jahreszeit die Erinnerungen an jene unbeschwerten, verspielten Sommertage, die man als Kind in Ostpreußen erleben durfte. So ergeht es mir, so wird es vielen älteren Leserinnen und Lesern ergehen, wie ich aus den Zuschriften ersehe, von denen ich nur einige an unsere Ostpreußische Familie weitergeben kann, weil die meisten sehr persönlich gehalten sind. Zu denen, die ich gerne veröffentliche, gehört die von Herrn Karl Zoll aus Hilchenbach. Auch für ihn gewinnen jetzt im fortgeschrittenen Lebensalter die Erinnerungen an die Kindheit wieder mehr an Bedeutung. Allerdings führen diese nach Hessen, aber Ostpreußen spielt auch eine Rolle, und keine unerhebliche. Und darum hat er sich an uns gewandt. Lassen wir ihn erzählen:

„Eine Ansichtskarte aus Schloßberg in Masuren (?) war die einzige Nachricht, die ich von Sigrid Krieger erhielt, nachdem sie 1936 von der Karlsburg nach Masuren umsiedelte Die Karlsburg ist seit Jahrhunderten der Sitz einer hessischen (preußischen) Revierförsterei im südlichen Rothaargebirge, heute zur politischen Gemeinde Stadt Battenberg / Eder gehörend. Sigrids Vater war dort Revierförster, ehe er Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts dort verstarb. Das Forsthaus, in dem Sigrid dann mit ihrer Mutter allein lebte, sah aus wie ein verwunschenes Schlößchen, einsam auf Bergeshöhe am Rande eines riesengroßen Waldgebietes, das sich im Ederbergland bis Kassel und darüber hinaus erstreckte. 1935 begann Sigrids Schulzeit in der einklassigen Volksschule in der nächstgelegenen Ortschaft Alertshausen im Wittgensteiner Land. Wir waren elf Kinder, die zu diesem Jahrgang gehörten. Der Fußweg, den das Mädchen mit den blonden Zöpfen jeden Tag gehen mußte, war an die drei Kilometer lang und ging steil bergauf und bergab. Zu Sigrid hatte ich gegenüber den andern Mitschülern und Mitschülerinnen eine besondere Beziehung, weil mein Großvater Hausmeister in der Revierförsterei war und deswegen in der Karlsburg dienstlich ein- und ausging. So machte ich dann manchen Gang mit und verbrachte viele Stunden mit Sigrid bei Schularbeiten und Spielen.

Bald begann sich das Ende der Idylle abzuzeichnen. Das alte Forsthaus war einem neuen Förster als Wohn- und Dienstgebäude nicht mehr zuzumuten, also wurde der Abriß geplant und der Neubau kurz vor Kriegsbeginn 1938 vollendet. Mutter und Tochter Krieger mußten das alte Haus verlassen. Eine neue Heimat fanden sie in Schloßberg. Außer der erwähnten Ansichtskarte kam aber kein Lebenszeichen mehr. Der Krieg kam und ging. Und 1947 war Sigrid plötzlich für ein paar Tage in ihrer ,alten‘ Heimat. Sie war verlobt, und deshalb stellte sich keine Frage nach einer engeren Verbindung zwischen uns. Wir feierten gemeinsam ein schönes Dorffest auf dem Hof unserer alten Schule. Es gab viel zu erzählen. Nicht weit von uns stand ein junges Mädchen mit langen, dunkelblonden Zöpfen. Ich sagte zu Sigrid: ,Sieh mal, das Mädchen da wird einmal meine Frau.‘ Jene ahnte noch gar nichts von ihrem ,Glück‘ – aber sie ist es tatsächlich seit nun 55 Jahren! Am Ende begleitete ich Sigrid zu ihren Gastgebern ins ,Dachsloch‘, einem Einzelgehöft in der Nähe der Karlsburg.

61 Jahre sind seitdem vergangen. Der Beruf verschlug mich mit Frau und Kindern an andere Orte. Jetzt schreibe ich an einer Chronik über mein Heimatdorf. Darin hat die alte Karlsburg mit dem kleinen Waldfriedhof einen besonderen Stellenwert. Zu gerne hätten wir Sigrid noch einmal zu unserer Goldenen oder Diamantenen Konfirmation dabei gehabt. Es gibt aber keine Adresse, und auch eine Anzeige im Ostpreußenblatt brachte kein Ergebnis. Nun habe ich eine geringe Hoffnung, daß Sigrid diese kleine Geschichte lesen und sich melden wird.“

Soweit das Schreiben von Herrn Zoll. Es ist eine hübsche, leichte Sommergeschichte, die allerdings noch kein Ende hat. Vielleicht kann unsere Ostpreußische Familie das bewirken, ein glückliches natürlich, aber da sind doch noch eine Unstimmigkeiten zu klären. Schloßberg in Masuren? Das Fragezeichen habe ich gesetzt, denn wenn es sich um unser ostpreußisches Schloßberg handelt, so liegt dies nicht in Masuren, sondern im nordöstlichen Ostpreußen und hieß 1936 noch Pillkallen. Erst zwei Jahre später erfolgte die Umbenennung in den neuen – übrigens in Wirklichkeit alten – Ortsnamen, denn der Name Schloßberg taucht bereits 1516 in den Akten des Ordens auf. Nun gibt es in Ostpreußen einige Güter mit diesem Namen, eines liegt im Kreis Angerburg, im tiefsten Masuren taucht er am Türkli-See auf, allerdings als zeitweise Benennung der alten Prussenfeste Tirklo-Burg. Aber das sind reine Spitzfindigkeiten und würden hier zu weit führen. Es gibt also zwei Möglichkeiten: Die Mutter von Sigrid Krieger stammte aus Ostpreußen und ging nach dem Tod ihres Mannes in ihre Heimat zurück, nach Pillkallen oder auf ein Gut, oder Herr Zoll setzt Ostpreußen mit Masuren gleich, wie es ja heute oft geschieht. (Gerade sprach ich mit Arno Surminski über dieses Thema, das sich nicht nur in Reiseprospekten zeigt, sondern zunehmend auch in Büchern und Teletexten!) Engen wir also die Suche ein nach einer Försterstochter mit blonden Zöpfen, Sigrid Krieger, die von 1936 an mit ihrer Mutter in Schloßberg wohnte und dort zur Schule ging, vielleicht bis zur Flucht, die sie ja überlebte. Nur so wäre die Spur zu legen! Über jeden Hinweis würde sich unser hessischer Leser freuen! Und alle, die mit Sigrid die Goldene oder Diamantene Konfirmation begehen wollen. (Dipl.-Verw. Wirt Karl Zoll, Nassauische Straße 22 in 57271 Hilchenbach, Telefon 0 27 33 - 48 90, E-Mail: k.zoll@online.de.)

Erinnerungen an die Kindheit – sie werden immer wieder lebendig, sind nie gelöscht worden, vor allem, wenn sie mit so gravierenden Eindrücken belastet sind wie die der damaligen Flüchtlingskinder. Viele Fragen blieben bis heute unbeantwortet, verlangen aber nach mehr als einem halben Jahrhundert noch immer nach einer Lösung. Und die kann es tatsächlich geben, auch wenn man selber als Übermittler nicht daran zu glauben wagte. Lest und staunt: Es ist tatsächlich eingetreten, was sich Frau Christa Möller aus Bienenbüttel erhoffte: Sie hat die Familie gefunden, die sie und ihre Großmutter Anfang Februar 1945 über das zugefrorene Frische Haff zur Nehrung gebracht hatten. Nicht nur sie bestätigte mir diesen Erfolg, den sie in ihrem Schreiben „einen gefundenen Strohhalm im Heuhaufen“ nennt, sondern auch Herr Gerhard Kalweit, Sohn dieser Flüchtlingsfamilie, damals neun Jahre alt. Wir hatten den Wunsch von Frau Möller in der Folge 19 gebracht. Zwei Tage später erhielt Gerhard Kalweit in Zeuthen einen Anruf seiner Schwester Inge aus dem Bremer Raum, die auf die Veröffentlichung hinwies. Die Geschwister waren sich bald einig, daß sie es gewesen waren, die das Kind und seine Großmutter, die hilflos am Haffufer standen und vergeblich versucht hatten, von einem Treck mitgenommen zu werden, auf ihren Wagen ließen. Besonders die damals 14jährige Inge konnte sich gut daran erinnern, daß ihr vollbepackter Wagen, mit dem die Kalweits von ihrem Hof in Bürgersdorf, Kreis Wehlau, aufgebrochen waren, in Tollerort zum großen Teil entladen werden mußte, damit Flüchtlinge, die zu Fuß unterwegs waren, mitgenommen werden konnten. Sie selber waren schon sieben Personen, aber die 82jährige Großmutter rief: „Dann nehmen wir doch die alte Frau da mit dem kleinen Mädchen mit!“ So wurde die achtjährige Christa und ihre Großmutter Elly Borow­ski gerettet. Vorerst, denn es wäre vielleicht alles anders für sie gelaufen, wenn sie dem Rat von Großmutter Kallweit gefolgt wären. Denn diese wollte nach geglück­ter Flucht über das Haff, dessen Eis schon teilweise brach, auf der Nehrung die Mitgenommenen bewegen, mit ihnen weiter Richtung Danzig zu ziehen. Aber Großmutter Borowski wollte nach Pillau, um auf ein Schiff zu kommen. Eine Hoffnung, die sich als trügerisch erwies – sie mußten noch zwei grausame Jahre unter Russenherrschaft erleben. Beide, Frau Möller wie Herr Kallweit, haben alles so eingehend geschildert, daß es mir leid tut, die Geschichte dieser Familien, die eine kurze Strecke des Fluchtwegs miteinander verbrachten und dann auseinander drifteten, hier nicht in voller Länge bringen zu können. Aber ich hoffe, daß ich dieses an anderer Stelle nachholen kann. Zuerst einmal freue ich mich über diesen – auch für mich – unerwarteten Erfolg und sage den Schreibern Dank für ihre Informationen. Da Frau Möller auch in der Frage nach der Mühle bei Heiligenbeil, in der sie vor der Flucht über das Haff die Nacht verbracht hatten, weitergekommen ist – hier hat ihr der Kirchspielvertreter von Heiligenbeil-Land, Herr Coch, sofort geholfen: Es ist die Mühle von Thomsdorf – kann sie ihren Brief mit dem für uns so erfreulichen Satz beenden: „Dank Ihrer Hilfe und der Landslied, kann ich nun fast die Wegstrecke zusammenfügen und die Gedanken ordnen zwischen Traum und Wirklichkeit, ich bin erleichtert und kann somit den Fluchtweg beschließen. Danke!“

Ich pflege oft zu sagen „Ich habe die Gnade der frühen Geburt“, weil ich noch unsere Heimat in ihrer ganzen Schönheit und Friedlichkeit erleben durfte, und das trifft wohl auch für Frau Lucie Rims-Blenck zu, wie ich ihren Erinnerungen entnehmen kann, die uns Frau Marlies Stern, La Spezia, übermittelte. Und die sie in alten Bildern auch sichtbar bewahrt hat, wie das auf dieser Seite abgedruckte Foto von Angehörigen der Molkerei-Schule Karschau beweist, das etwas von den unbeschwerten Kindertagen ahnen läßt, die sie auf dem nahe bei Königsberg gelegenen, der Familie Sachsen gehörenden Rittergut Gr. Karschau verleben durfte. Vater Fritz Rims war dort Melkermeister, ihr Großvater, der in Trakehnen gelernt hatte, Reitmeister. „Ich bin zu gerne mit meinem Opachen zum Pferdestall gegangen. Es ließ sich in Karschau wunderbar leben, ich habe so eine schöne Kindheit gehabt mit Erntedankfesten und Weihnachtsbescherung im Gutshaus. In Karschau gab es sechs Wohnhäuser, in einem wohnten wir, im Herrenhaus mein Patenonkel, der Direktor der Ponarther Mittelschule.“ So war die kleine Lucie eng mit allem verbunden, was mit Karschau zusammenhing, auch als der Krieg begann und ihr Vater den zur Wehrmacht eingezogenen Gutsinspektor vertreten mußte. Zur Erntezeit kamen Soldaten aus der nahen Ponarther Kaserne zum Ernteeinsatz. Ihre Mutter kochte für alle. Heute ist das alles nur Erinnerung. Frau Rims-Blenck schreibt: „Als man wieder nach Königsberg einreisen durfte, bin ich sofort und danach sehr oft nach Karschau gefahren. Mit unbeschreiblicher Traurigkeit versuche ich den heute dort lebenden alten und bitterarmen Russenfrauen zu helfen. Von meinem geliebten Karschau aber gibt es nur noch wenige Ruinen.“ Nichts erinnert mehr an den stattlichen Besitz mit den drei großen Scheunen, dem Kuhstall mit 250 Kühen, dem Pferdestall mit Acker- und Reitpferden. Vielleicht erinnern sich auch alte Karschauer und Ehemalige der Molkerei-Schule, wenn sie das Foto sehen?

Eure Ruth Geede

Foto: Dienstfahrzeug mit Angehörigen der Molkerei-Schule Karschau: Am Steuer sitzt Erich Pappe.


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