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30.08.08 / »Ostpreußen begeistert« / Andreas Kossert über die Integration der Vertriebenen und den Umgang mit ihrem Erbe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-08 vom 30. August 2008

»Ostpreußen begeistert«
Andreas Kossert über die Integration der Vertriebenen und den Umgang mit ihrem Erbe

Mit Veröffentlichungen über  Ostpreußen und die Integration der Vertriebenen nach 1945 hat sich der Historiker Andreas Kossert einen Namen gemacht. Konrad Badenheuer hat den zur Zeit in Warschau arbeitenden Buchautor für die Preußische Allgemeine interviewt.

PAZ: Vor Ihrem Buch „Kalte Heimat“ über die Integration der Vertriebenen nach 1945 haben Sie bereits mehrere Bücher über Ostpreußen vorgelegt. Wie sind Sie auf das Thema gekommen? 

Kossert: Für mich ist es eine Rückkehr zu den Wurzeln, meine Familie mütterlicherseits stammt aus Masuren, aus dem Kreis Ortelsburg. Die Erinnerung daran und auch der Schmerz über den Verlust der Heimat waren bei uns stets präsent. 1987 überredete ich meine Großeltern, mit mir dorthin zu fahren, und diese Reise wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis. Meine Großeltern sprachen plötzlich Masurisch und konnten den ganzen Tag ohne Dolmetscher mit den dortigen Polen reden. Sonst sprachen sie nur Deutsch, eben mit dem typischen ostpreußischen Akzent. In diesem Moment wurde mir klar, wie nationale und sprachliche Identitäten durcheinandergehen können.

PAZ: Was ist das Problem, wenn Sprache und nationale Identität sich unterscheiden?

Kossert: Aus der Sicht des geeinten Europas ist das nichts allzu Überraschendes. Für eifrige Patrioten in Deutschland und Polen war und ist es teilweise noch schwierig, sich von einseitig nationalen Denkmustern zu verabschieden. Hier in Polen tun sich einige noch schwer damit, daß ich klar geschrieben habe, daß Polen 1920 keine Chance hatte, die Volksabstimmungen zu gewinnen, weil sich die Masuren eben als Deutsche fühlten. Umgekehrt gibt es deutsche Heimatbücher über Ostpreußen, in denen unerwähnt bleibt, daß die Muttersprache nicht geringer Bevölkerungsteile in einigen Landkreisen Masurens nicht Deutsch war. Es gibt Kreisbefehle der NSDAP aus den 30er Jahren, in denen angeordnet wurde, auf Parteiversammlungen doch gefälligst nicht Masurisch zu sprechen, weil das „undeutsch“ wäre.

PAZ: Ihr neues Buch beschreibt vor allem die enormen Härten der Integration der Vertriebenen, zumal in den ersten Jahren. War das Thema davor ein weißer Fleck?

Kossert: Es gibt regionale Studien darüber, aber bisher keine Darstellung auf nationaler Ebene. Im Gespräch mit Betroffenen habe ich eine Art „verdruckstes Schweigen“ erlebt, wenn es um die frühen Nachkriegsjahre ging. Es ging um die schmerzvolle Erfahrung, nach den überstandenen Schrecken der Vertreibung oft jahrelang auf Ablehnung zu stoßen.

PAZ: Beispielsweise?

Kossert: In Westfalen haben in den 50er Jahren einige Schützenvereine und Freiwillige Feuerwehren ihre Satzungen geändert, um keine Vertriebenen aufnehmen zu müssen, ähnliches gab es in Schleswig-Holstein. Anderswo wurden Vertriebene noch lange in den Selbstmörderecken der Dorffriedhöfe bestattet. Manche Diskriminierungen sind bis heute spürbar.

PAZ: Sie argumentieren, daß die deutsche Mehrheitsgesellschaft viel weniger fair mit ihren Vertriebenen umgegangen ist, als etwa Finnland mit den vertriebenen Kareliern.

Kossert: 1951 haben die Amerikaner eine Delegationsreise deutscher Bundestagsabgeordneter nach Finnland organisiert, damit sie Anregungen für die Integrationspolitik bekommen. Aber die Mentalität dort war ganz anders, in Finnland sagte man nach 1945 „Jetzt sind wir alle Karelier“. Diese solidarische Sichtweise gab es in Deutschland so nicht.

PAZ: Hat dabei nicht eine Rolle gespielt, daß das dünn besiedelte Finnland seine Vertriebenen leichter unterbringen und ernähren konnte als das zerstörte und überbevölkerte Restdeutschland, wo die Einheimischen in den ersten Jahren selbst um das Überleben kämpfen mußten?

Kossert: Das erklärt manches in der ersten Zeit, aber nicht die vielfältigen und lange andauernden Zurücksetzungen und Härten, die ich in meinem Buch belege.

PAZ: Damit kratzen Sie mächtig am Bild der wunderbar gelungenen Integration der 14 Millionen Vertriebenen!

Kossert: Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Eine Integration im eigentlichen Sinne, bei der die neu Hinzukommenden Teile ihrer Kultur und Identität, zu der auch ihre Verletzungen gehören, in die aufnehmende Gesellschaft einbringen und damit deren Identität erweitern und mitprägen, hat es im Falle der Ost- und Sudetendeutschen nicht gegeben. Zwar hat die Aufnahme dieser Menschen tiefgreifende Veränderungen bewirkt – man denke nur an die konfessionelle Landkarte Deutschlands –, aber eben nicht im Sinne einer echten Integration. Zunächst bestanden Parallelgesellschaften, dann folgte eine Assimilation bei der vom Erbe der Vertriebenen wenig übrigblieb. Die Kultur der Vertriebenen hat nur in Nischen überlebt und wanderte später teilweise in Archive, teilweise ging sie unter. Die Heimatstuben sind ein Beispiel dafür.

PAZ: Wird das, was dort gezeigt wird, angemessen gewürdigt?

Kossert: In den Hunderten Heimatstuben sind Kleinodien angesammelt, die in der Summe einen bedeutenden Teil der kulturellen Identität Deutschlands ausmachen. Aber die Existenz der Stuben steht und fällt oft mit wenigen ehrenamtlichen Idealisten. Es gibt bis heute keine Konzeption auf nationaler Ebene, wie mit diesem Erbe umgegangen werden soll. Momentan wird es so gehandhabt, daß der Inhalt solcher Stuben, wenn die Betreuer ausfallen, in Depots wandert oder in örtliche Museen integriert wird. Manches wird wohl auch „entsorgt“. Kaum zu retten sind auch die Dialekte des Ostens. Man kann ja heute „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann schon nicht mehr originalgetreu aufführen, weil es keine Schauspieler mehr gibt, die die Passagen im niederschlesischen Dialekt authentisch spielen können.

PAZ: Brauchen wir ein gesamtstaatliches Konzept für dieses Erbe?

Kossert: Ja, und dabei kann man auch von einem Rettungsplan sprechen. Die Kosten wären etwa im Falle der Heimatstuben gering, denn die Exponate sind ja vorhanden. Was fehlt, ist eine Konzeption und ein Bewußtsein dafür, was hier auf dem Spiel steht. Wir müssen dieses kulturelle Erbe ohne Parteienstreit als unser gemeinsames Erbe begreifen und bewahren. Auch Günter Grass hat sich kürzlich in diesem Sinne ausgesprochen.

PAZ: Grass hat sich bei diesem Thema lange Zeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. An der von Ihnen beklagten Verdrängung hat er jahrzehntelang mitgewirkt!

Kossert: Günter Grass hat Danzig zu einem unvergänglichen Teil der deutschen Nachkriegsliteratur werden lassen. Dabei setzt auch er heute neue Akzente, die doch zeigen, daß in Deutschland ein Umdenken über den Umgang mit Flucht und Vertreibung, aber auch über die Ankunft von 14 Millionen Vertriebenen und ihrem kulturellen Erbe begonnen hat. Ein „Sichtbares Zeichen“ – wie von der Bundesregierung beschlossen – wäre auch als „Denkstätte“ und wissenschaftliches Dokumentationszentrum ein Plädoyer, dieses Thema in der Mitte der Gesellschaft dauerhaft zu verankern. Und dort gehört es auch hin.

PAZ: Sie schreiben, die Vertriebenen hätten auf die Abwendung der großen Parteien mit einer Radikalisierung reagiert. War es wirklich so?

Kossert: Jedenfalls wurden Positionen der Vertriebenenverbände, die bis weit in die 60er Jahre hinein zum politischen und gesellschaftlichen Konsens gehörten, ab den 70er Jahren von der Mehrheitsgesellschaft zunehmend als radikal empfunden.

PAZ: Das ist aber doch ein Unterschied: Die Landsmannschaften und der BdV sind doch nur bei den Positionen geblieben, über die bis dahin sogar Einigkeit bestanden hatte?

Kossert: Da mögen Sie im Kern recht haben, aber auf Seiten der Verbände gab es teilweise extreme Verhärtungen und ein Stück weit Realitätsverweigerung, die wohl damit zusammenhängen, daß man sich von der Politik im Stich gelassen fühlte. Heute stellt sich die Aufgabe, gesamtgesellschaftlich das besondere Leid der Vertriebenen anzuerkennen. Sie auch als Opfer zu begreifen, nicht nur von Flucht und Vertreibung, sondern auch der Abweisung und Häme durch die eigenen Landsleute nach 1945, wäre eine späte Genugtuung und ein bedeutendes Signal.

PAZ: Wie hat sich diese abweisende Haltung auf die Betroffenen ausgewirkt?

Kossert: Als eine zusätzliche Traumatisierung. Ich bekomme etliche Briefe von Psychologen und Seelsorgern, die das bestätigen und sich für eine Aufarbeitung aussprechen. Und ich bekomme Post von Nachgeborenen, die diese Last als Teil ihrer Familiengeschichte mitbekommen haben.

PAZ: Sie leben in Warschau, sind oft in Ostpreußen unterwegs. Wie geht man dort heute mit dem deutschen Erbe und der Problematik der Vertreibung insgesamt um?

Kossert: Ich erlebe sehr viel Offenheit. Mit dem Umdenken in Deutschland wird eigentlich nur nachvollzogen, was in großen Teilen der einst deutschen Gebiete schon Realität ist. Hier in Polen und auch anderswo in Ostmitteleuropa wird das Thema mit einer ganz anderen Sensibilität gesehen als in Deutschland selbst. Der Bürgermeister von Breslau nennt seine Stadt selbstverständlich mit dem deutschen Namen, wenn er Deutsch spricht, in Schlesien ist man stolz auf die 13 Nobelpreisträger der Region, obwohl keiner davon ein Pole ist. Schlesien ist heute im besten Sinne europäisch, und im südlichen Ostpreußen hat man längst keine Angst mehr vor den Deutschen, sondern allenfalls davor, daß sie zu Hause bleiben könnten.

PAZ: Kann es sein, daß polnische Nationalisten vor der Deutschfreundlichkeit ihrer eigenen Leute in den sogenannten „wiedergewonnenen Gebieten“ mehr Angst haben als vor den Deutschen selbst?

Kossert: Das kann sein, jedenfalls ist Polen mentalitätsmäßig heute zweigeteilt. Sowohl bei den Wahlen des Jahres 2005 als auch beim Referendum über den EU-Beitritt 2003 sehen Sie am Ergebnis auf der Landkarte exakt die alten Grenzverläufe: Ausgerechnet dort, wo einst die Deutschen lebten, gibt es keine Angst vor Deutschland. Zu erklären ist das nur durch gute Erfahrungen bei der persönlichen Begegnung mit den deutschen Heimatreisenden, und dieser Beitrag der Vertriebenen zur Versöhnung sollte anerkannt werden. Wir leben in Europa heute in einer postnationalen, zumindest in einer postnationalistischen Zeit. Damit werden Traditionen wieder sichtbar und besser verständlich, die aus der Zeit vor dem modernen Nationalismus stammen – etwa das Auseinanderfallen von sprachlicher und nationaler Identität, über das wir eingangs sprachen. Preußen hatte viele Züge in dieser Richtung. Der Nationalismus war in historischer Perspektive ein relativ kurzlebiges Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, und er verdeckt vieles. Wir sollten stärker als bisher die ganze Geschichte erzählen.

Frage: Wenn man Sie von Ostpreußen reden hört, dann klingt das oft sehr emotional.

Kossert: Ostpreußen ist für mich eine der spannendsten europäischen Kulturlandschaften, und wie man immer wieder sehen kann, eine Sehnsuchtslandschaft der Deutschen. Viele jüngere Menschen, unter ihnen auch viele Nachfahren von Ostpreußen, begeistern sich für die einzigartige Natur, großstadtmüde Menschen erliegen der Melancholie der Landschaft, seiner Geschichte und Kultur. Und diese Begeisterung schließt die Begegnung mit seinen heutigen Bewohnern ein. Das historische Ostpreußen ist versunken, aber eine Spurensuche für alle Menschen, die diese Landschaft bewahren wollen, lohnt sich immer.

PAZ: Die Preußische Allgemeine Zeitung will diese Spurensuche unterstützen und publizistisch begleiten.

Kossert: Und wenn sie sich entsprechend öffnet, könnte sie durchaus zum Forum für alle Freunde Ostpreußens werden, auch außerhalb Deutschlands. Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht: Ostpreußen begeistert!

 

Andreas Kossert, Jahrgang 1970, ist Historiker, Slawist und Politologe. Er arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Warschau und ist Autor mehrerer Bücher über Ostpreußen sowie des Buches „Kalte Heimat – Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“, Siedler, München 2008, geb., 432 Seiten, 24,95 Euro.

Foto: Schnelle und schroffe Kehrtwende der SPD: Noch auf dem Bundesparteitag im November 1964 sprach Willi Brandt vor einer Deutschlandkarte mit den Grenzen von 1937.


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