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30.08.08 / Im Sein des Menschen wurzeln / In Darmstadt macht man sich Gedanken über die Wirkung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-08 vom 30. August 2008

Im Sein des Menschen wurzeln
In Darmstadt macht man sich Gedanken über die Wirkung von Architektur auf die Gesellschaft
von Helga Steinberg

Habe Ehrfurcht vor dem Alten, und Mut, das Neue zu wagen. Bleibe treu der eigenen Natur und treu den Menschen, die du liebst.“ Diese Inschrift liest man auf dem 48 Meter hohen „Hochzeitsturm“, dem Wahrzeichen Darmstadts. Der wie eine ausgestreckte Hand aufragende Turm krönt die Mathildenhöhe, mit 180 Metern über NN die höchste Erhebung der Darmstädter Innenstadt. Dort hat man in den vergangenen Monaten viel gefeiert, denn es galt, an die Errichtung des Turms vor 100 Jahren zu erinnern und damit auch ein Augenmerk auf die Künstlerkolonie Mathildenhöhe  zu richten.

Unter dem Motto „100 Jahre Stadtkrone Darmstadt – Ein Jahr im Zeichen der Architektur“ sollte ausdrück-lich „über die Rolle der Architektur als essentiellem Lebensraum des Menschen“ (Ralf Beil, Direktor des Instituts Mathildenhöhe) nachgedacht werden. Symposien, Ausstellungen und Vorträge lieferten ein buntes Programm, das einen Höhepunkt in einer Podiumsdis-kussion mit namhaften Architekten wie Jan Kleihues zum Thema „Architektur und Gesellschaft“ finden dürfte (4. September, 19.30 Uhr, Ausstellungsgebäude Mathildenhöhe). Auch die Ausstellung mit meisterhaften großformatigen Fotografien von Andreas Gursky (bis 7. September) zeigt, wie sehr Architektur unser Leben beeinflußt und einen Teil der kulturellen Identität einer Gesellschaft ausmacht.

Die Mathildenhöhe war schon im 19. Jahrhundert eine Gartenanlage des großherzoglichen Hofes und wurde 1833 im Stil eines Eng-lischen Landschaftsparks umgestaltet. Der Garten wurde nach Mathilde Karoline Friederike von Wittelsbach, der Gemahlin Großherzog Ludwigs III., benannt. In den Jahren 1877 bis 1880 wurde auf der Mathildenhöhe ein Reservoir zur Wasserversorgung der Stadt errichtet und 1897 eine russische Kapelle erbaut, deren Zwiebeltürme weithin glänzen. Die Bebauung der südlichen Mathildenhöhe durch die von Großherzog Ernst Ludwig 1899 gegründete Künstlerkolonie führte ab 1900 zu der heutigen Gestalt, die durch den Hochzeitsturm und das auf dem Wasserreservoir stehende Ausstellungsgebäude beherrscht wird.

Der Architekt Joseph Maria Olbrich gestaltete den 1908 fertiggestellten Backsteinturm im Auftrag der Stadt Darmstadt als Geschenk zur Erinnerung an die Eheschließung des Großherzogs Ernst Ludwig mit Prinzessin Eleonore zu Solms-Hohensolms-Lich. Die fünf abschließenden Bögen des Daches, die an eine ausgestreckte Hand erinnern, führten dazu, daß der Turm im Volksmund bald „Fünffingerturm“ genannt wurde. Die ehemalige Darmstädter Baurätin Christiane Geelhaar findet allerdings, „daß damit auch eine Krone gemeint sein könnte. Denn der erste Entwurf von 1900 hatte schon eine Krone über der Kanzel hängen.“ Ob nun Krone oder Hand – die Gestaltung von Turm und gleichzeitig entworfenem Ausstellungsgebäude verknüpfte genial die Vergangenheit mit der Neuzeit und entsprach so dem Motto der Künstlerkolonie.

Über Jahrzehnte war der Hochzeitsturm für Besucher geschlossen. Erst ein 1982 gegründeter Förderkreis kümmerte sich um den Turm. Nach jahrelanger Restaurierung konnte der Turm 1993 schließlich für Besucher geöffnet werden. Sein Schöpfer Joseph Maria Olbrich, 1867 in Troppau geboren, hatte sich mit seinem Entwurf für das Gebäude der Wiener Secession 1897 einen Namen gemacht und wurde in Darmstadt zu einem Impulsgeber und Initiator in der Künstlerkolonie.

Der Tausendsassa Olbrich entwarf Künstlervillen und Ateliergebäude ebenso wie einfache Gebrauchsgegenstände. Möbelstücke, Musikinstrumente, Keramikgeschirre und sogar Briefkästen entstanden in seinem Atelier. 1906 erhielt er seinen letzten, den größten Auftrag: Er sollte das Warenhaus der Leonhard Tietz AG (später Kaufhof) in Düsseldorf entwerfen.

Olbrich starb 1908 im Alter von nur 40 Jahren in Düsseldorf. Mit seiner Stadtkrone, dem Hochzeitsturm, war er seiner Zeit weit voraus gewesen. Erst gute zehn Jahre später entwickelte der Architekt Bruno Taut (1880–1938) seine Vision einer „Stadtkrone“. 1919 erschien sein erstes gleichnamiges  Buch „Die Stadtkrone“. Dort stellt der in Königsberg geborene Architekt die Konzeption einer Gartenstadt für 300000 Einwohner vor, mit einem Kulturzentrum als architektonischem Mittelpunkt.

Anders als der Darmstädter Hochzeitsturm, der aus rotem Klinker errichtet wurde, sollte dieser Mittelpunkt, der über allem thront, allerdings ein hoch aufragender, gläserner Turmbau sein. Dieser zweck-freie Kristallbau sollte einfach „nur schön“ sein und in einem alle Künste wieder vereinigenden Innenraum das Sonnenlicht farbenprächtig verwandeln und den „Kosmos“ auf diese Weise gegenwärtig werden lassen. Tauts Visionen haben sich nicht erfüllt, seine Ansicht aber, daß die Architektur „im ganzen Sein des Menschen wurzeln“ solle, „in all dem, wodurch er seinen eigenen Wert, seine Beziehung zur Welt fühlt“, spiegelt sich noch heute nicht zuletzt in  der Darmstädter Jubiläumsfeier.

Foto: Malerisches Darmstadt: Der Hochzeitsturm und die Russische Kapelle auf der Mathildenhöhe


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