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20.09.08 / Unvermutete Zusammenhänge / Was Bernoulli mit Schläuchen, der Gesundheitsreform und dem EU-Frust zu tun hat – Von Richard G. Kerschhofer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-08 vom 20. September 2008

Unvermutete Zusammenhänge
Was Bernoulli mit Schläuchen, der Gesundheitsreform und dem EU-Frust zu tun hat – Von Richard G. Kerschhofer

Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich eines Tages mit Bernoulli zu tun haben würde. Gemeint ist jener Daniel Bernoulli, der von 1700 bis 1782 lebte und unter anderem Theorien zur Strömungsmechanik entwickelte. Dazu gehört auch ein auf den ersten Blick paradox scheinendes Gesetz: Bei Erweiterung des Querschnitts eines Schlauches nimmt die Fließgeschwindigkeit ab – soweit recht plausibel. Nur wer dächte schon daran, daß an der erweiterten Stelle der Druck nach außen ansteigt?

Bekanntlich ist es ein sichtbarer Hinweis auf Materialfehler oder Alterung, wenn sich bei einem Schlauch eine Ausbuchtung entwickelt. Bei einem Blutgefäß – auch nichts anderes als ein Stück Schlauch – ist eine solche Schwachstelle keineswegs augenfällig, aber als Entschädigung für ihr Schattendasein kriegt sie den klingenden Namen Aneurysma. Falls man sie entdeckt.

Doch ob Gartenschlauch oder Aorta, die Erweiterung wird dank Bernoulli und wegen des erhöhten Drucks nach außen mit der Zeit immer größer! Und schließlich platzt das Ding wie die Spekulationsblasen an Börsen oder am amerikanischen Hypothekenmarkt.

Daß es so etwas wie ein Aneurysma gibt, hat der gute Bernoulli wohl nicht gewußt, und auch ich kenne diese Bezeichnung erst seit ein paar Monaten. Bis zufällig entdeckt wurde, daß ich ein Aneurysma der Bauchaorta mit mir herumtrage. Gewissermaßen als Kombination von Achillesferse und Damoklesschwert, denn ob und wann es platzt, kann keiner voraussagen.

Nun, gegen Finanzblasen will oder darf man nichts unternehmen – sie sind ja notwendig zur Umverteilung von Unten nach Oben beziehungsweise vom Rest der Welt an die Hintermänner der Wall Street. Beim Aneurysma hingegen ist ein Eingriff durchaus möglich und ab einem gewissen Durchmesser sogar dringend anzuraten.

Leider stammt die Bauchaorta noch aus der Zeit vor Erfindung der Chirurgie: Sie liegt nicht etwa wartungsfreundlich gleich unter der Speckschicht, sondern weit hinten nahe dem Rückgrat. Um an sie heranzukommen und das defekte Stück durch eine Prothese zu ersetzen, muß man also erst ausräumen und beiseitelegen, was sich normalerweise davor befindet – und das ist eine ganze Menge. Soweit die „offene Operation“ mit entsprechenden Unannehmlichkeiten.

Zum Glück gibt es neben mancherlei entbehrlichem Fortschritt auch den technischen Fortschritt. Die Medizin profitiert dabei oft von Techniken und Materialien, die für ganz andere Zwecke entwickelt wurden – sowie von Leuten mit genügend Allgemeinbildung und Vorstellungskraft, denn nur sie vermögen es, den Nutzen von Erfindungen voll zu erkennen und Neuerungen von einem Fachgebiet ins andere zu übertragen.

So kann man heute mittels Computer-Tomographie die genaue Lage und Dimension von Aneurysmen berechnen und noch vor der Operation maßgeschneiderte Ersatzstücke anfertigen. Als Alternative zur offenen Operation hat man sogenannte „Stents“ („Versteifungen“) ersonnen, die durch die freigelegten Beinarterien eingeführt und an die kritischen Stellen manövriert werden. Dort angelangt, werden sie durch einen Federmechanismus auf den richtigen Durchmesser gebracht und kleiden das marode Stück Arterie von innen aus.

Ort des Geschehens war in meinem Fall das Wiener Allgemeine Krankenhaus, das in Ansätzen auf Kaiser Leopold I. zurückgeht. Nach großzügiger Erweiterung durch dessen Urenkel Joseph II. wurde es 1784 als „Allgemeines Krankenspital“ in Betrieb genommen.

Der 1994 eröffnete Neubau hat eine weniger rühmliche Geschichte – mit einer Bauzeit von fast vier Jahrzehnten, etlichen Fehl- und Umplanungen, politischen Skandalen und gigantischen Kostenüberschreitungen. Doch man kann sagen „Gut Ding trotz Weile“, denn es gibt weltweit nicht viele Institutionen, wo eine derart geballte Ladung an medizinischem Fachwissen und hochwertiger Technologie unter einem Dach zu finden ist.

All das und vieles andere mehr muß natürlich finanziert werden. Ein unpopuläres Thema, und drum redet man lieber schöngeistig von „Gesundheitsreform“. Doch in Klartext heißt das Problem „Sicherung der Krankenversorgung“. Das umfaßt einerseits die Sanierung der Krankenkassen, also ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis von Beiträgen und Leistungen bei minimalem Verwaltungsaufwand, und andererseits die Erhaltung von Krankenhäusern, Arztpraxen und Apotheken auch dort, wo diese weniger „rentabel“ sind. Bezeichnenderweise finden sich zum Stichwort „Gesundheitsreform“ 1,8 Millionen Einträge im Internet, zu „Krankenkassensanierung“ nur knapp 1000.

Da es schon schwierig genug ist, medizinische und betriebswirtschaftliche Erwägungen unter einen Hut zu bringen, bleiben die an sich übergeordneten bevölkerungspolitischen und volkswirtschaftlichen Erfordernisse meist völlig unberücksichtigt.

Einzelinteressen, Gruppeninteressen, persönliche Eitelkeiten, föderalistische Auswüchse, wahltaktisches Kalkül, ideologische Phantastereien, Anspruchsdenken, falsch verstandene „Freiheiten“ oder schlicht Organisationsmängel – all das treibt die Kosten und schadet dem Gemeinwohl. Ein Aspekt wird überhaupt ignoriert, nämlich die Zeit, die in den Wartezimmern der Ambulatorien und vieler Ärzte vergeudet wird. Betroffen sind ja nicht nur „Pensionäre, die eh nix zu tun haben“, sondern auch Begleitpersonen, Angehörige und – nicht zu vergessen! – die Arbeitgeber.

Gewiß, in den meisten anderen Ländern – nicht nur in der Dritten Welt, sondern etwa auch in Großbritannien und den USA – steht es um die allgemeine Krankenversorgung noch viel schlechter.

Das tröstet aber wenig, wenn man Steuer- und Beitragszahler ist und trotzdem für immer weniger von den Kassen genehmigte Medikamente immer höhere „Rezeptgebühren“ berappen muß oder überhaupt Leistungen privat in Anspruch nimmt, um sich nicht mit endlosen Warteschlangen und Bürokraten herumzuschlagen zu müssen.

Das „Aneurysma“, die „Erweiterung“, hat übrigens auch mit Europa zu tun. Das „Eu“ in „Europa“ kommt nämlich nicht vom altgriechischen Wort für „gut“, „wohl“, „glücklich“ wie in Euphorie, Euphemismus, Eugenik etc. Der Kontinent heißt vielmehr nach der jungen Königstochter Europe, die einst der stiergestaltige Zeus aus Phönizien, dem heutigen Libanon, nach Kreta entführt haben soll – und anderes mehr. Ihr Name bedeutet etwa „die Weitsichtige“, zusammengesetzt aus „eurys“, „weit“, das auch in „Aneurysma“ steckt, und aus „ops“, „Sicht“, das wir von der „Optik“ kennen. Die Weitsichtige? Da ist „Europa“ doch eigentlich ein irreführender Euphemismus genau wie „Gesundheitsreform“! Und Bernoulli, der wäre heute erst recht frustriert: Denn bei der EU-Erweiterung wird, seiner Theorie entsprechend, der Druck zwar größer – aber nicht von innen nach außen, sondern genau umgekehrt ...  

Nach drei Monaten krankheitsbedingter Auszeit ist PAZ-Autor R. G. Kerschofer wieder genesen.


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