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20.09.08 / Zeuge des Unfaßlichen / Italiener berichtet über seine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-08 vom 20. September 2008

Zeuge des Unfaßlichen
Italiener berichtet über seine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz

Er hat die Hölle überlebt, doch „man kommt nie mehr wirklich aus dem Krematorium heraus“, so Shlomo Venezia gegenüber Béatrice Prasquier, einer jungen Französin, die den in Rom lebenden Juden über seine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz befragte. Venezia stammt aus einer italienischen Familie, wuchs allerdings im griechischen Saloniki auf. Der 1923 Geborene berichtetet in dem als ein langes Interview verfaßtem Buch „Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz“, wie er beim Einmarsch der Deutschen in Griechenland von seiner italienischen Staatsbürgerschaft profitierte. Lange Zeit galten er und seine Familie als Italiener, doch als diese 1943 die Fronten wechselten und plötzlich zu den Feinden der Deutschen wurden, wurden auch Shlomo Venezia und seine Familie zu Feinden der Deutschen, und man sah sie nur noch als zu vernichtende Juden an. Zwar flüchtete die Familie nach Athen, doch dort griffen ihre Häscher sie auf, und es ging nach Auschwitz. Als die Familie dort aus dem Transport ausstieg, sah Shlomo Venezia seine Mutter und seine beiden jüngeren Schwestern zum letzten Mal in seinem Leben. Wie sie zu Tode kamen, durfte der kräftige, junge Mann tausendfach bei anderen miterleben, denn er und sein Bruder Maurice kamen in eine Einheit des Sonderkommandos Auschwitz. Tote aus den Gas-kammern ins Krematorium zur Verbrennung zu bringen wurde eine seiner Aufgaben.

Einfühlsam befragt Béatrice Prasquier den Italiener nach seinen Erlebnissen. Fragt nach, wie er die Massenvernichtung ertragen hat und wie die Menschen, die er in den Tod gehen sah, auf ihn wirkten. Und so berichtet er von Verzweiflung und Resignation, Nicht-Begreifen und unbeschreiblicher Hilflosigkeit. „Die Menschen, die zum Beispiel aus Holland oder Ungarn kamen, hatten noch einige Wertgegenstände bei sich und verfügten auch noch über eine gewisse Kraft, die Deportierten aus den Ghettos hingegen hatten nur Läuse, sonst nichts. Man sah, daß die meisten keinen rechten Lebenswillen mehr aufbrachten. Nur wenige hatten Kraft und Hoffnung.“ Shlomo selbst hatte noch Kraft, aber keine Hoffnung. Trotzdem tat er jeden Tag seine grausige Arbeit.

Und auch seinen Gewissenskonflikt beschreibt er. So mußte er Juden, die sich ausziehen mußten, bevor sie in die „Duschen“ kamen, bei dieser Tätigkeit helfen. Eine alte Frau ist ihm da besonders im Gedächtnis geblieben. Sie wollte sich nicht von einem jungen Mann entkleiden lassen und zog, kaum hatte er ihr die Socken runtergezogen, sie wieder hoch. Immer wieder wiederholte sich dies, bis er hart durchgriff und die Frau entkleidete, um sie dann in die Gaskammer gehen zu lassen. Verständnis und Mitgefühl konnte er damals nicht aufbringen, behinderte die Frau ihn doch bei seiner Arbeit, und wurde diese nicht schnell genug verrichtet, würde einer der SS-Wachen ihn bestrafen.

Auf die Frage, ob es humane Wachen gab, erinnert Shlomo Venezia sich nur an einen Holländer unter ihnen. „Er war der einzige SS-Mann, den ich kannte, der sich so verhielt. Die anderen waren wie grausame Tiere, ohne jede Spur von Menschlichkeit. Sie töteten ohne jeden Skrupel. Sie schufen chaotische Situationen, um die Menschen gleich bei ihrer Ankunft zu erschrecken ...“ Oft genug hätten sich die Bewacher nicht die Mühe gemacht, Menschen in die Gaskammern zu schicken, ein Genickschuß und der Aufsässige oder Kranke wurde ermordet.

Die Erinnerungen des Shlomo Venezia dokumentieren ein furchtbares Kapitel europäischer Geschichte. Doch trotz allem historischen Wert sind sie nur starken Gemütern zuzumuten. Das Leben so dicht neben dem Massensterben und die beschriebene „Entsorgung“ der in ihrem Todeskampf aneinander geklammerten Vergasten sind unsagbar grausam.          R. Bellano

Shlomo Venezia: „Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz“, Blessing, München 2008, geb., 271 Seiten, 19,95 Euro


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