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20.09.08 / Originale im Schatten der Kirchen / Wilna, die Stadt der vielen Wahrheiten – Ein Besuch in der jungen und lebendigen Hauptstadt Litauens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-08 vom 20. September 2008

Originale im Schatten der Kirchen
Wilna, die Stadt der vielen Wahrheiten – Ein Besuch in der jungen und lebendigen Hauptstadt Litauens

Gleich zwei Städte werden 2009 den Titel Europäische Kulturhauptstadt tragen. Neben Linz in Österreich ist es Wilna in Litauen, das lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang verborgen war. Nach den Schreckensjahren im 20. Jahrhundert hat sich das Leben in Wilna geändert.

Auf einer Halbinsel mitten in Wilna gehen die Uhren anders: Eine vor nunmehr elf Jahren halb im Scherz, halb im Ernst zur „selbständigen Republik Užupis“ ausgerufene Künstlerkolonie hat sich eine eigene Welt geschaffen. Drum herum liegt Osteuropas größte, barock-prächtige Altstadt mit an die 50 Kirchen aller Konfessionen, kopfsteinpflasterkrummen Gassen, modernen Studentencafés und letzten baulichen Resten des untergegangenen Sowjetreichs.

Der „Präsident“ ist ein vielbeschäftigter Mann. „Er ist in Portugal“, meint einer seiner Untertanen, „nein in der Mongolei“, korrigiert ein Zweiter, während der Staatschef gerade um die Ecke kommt. Der Mann mit dem angegrauten Dreitagebart und den wasserblauen Augen trägt Verantwortung, sehr viel Verantwortung – „zum Beispiel für den Wind, unsere vier Flaggen – eine für jede Jahreszeit – und für unseren Kalender“. Das Jahr beginnt in der Republik Užupis am Frühlingsanfang. „Da werfen wir symbolisch alle Vorurteile ins Feuer“, erklärt Präsident, Filmemacher und Künstler Roman Lileikis, „so haben wir wieder Platz für neue.“ Am 1. April feiert man die Unabhängigkeit und jeden Sonnabend einen Markt.

„Straße des Todes“ steht immer noch in blutroter Schrift auf einer Hauswand an der Hauptstraße von Užupis, dem „Messerstecher“-Stadtteil, in dem einst die Armen lebten. Dann kamen die Künstler und jetzt die Investoren. Die verfallenen Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert werden nach und nach restauriert. Seit Gründung der Republik Užupis  ist das in einer Schleife des Flüßchen Vilnelè gelegene uralte Viertel ein gefragtes Wohnquartier. In den schon renovierten Häusern eröffnen immer mehr Galerien und Cafés.

Bürger von Užupis sind sie nicht alle, aber „wohl die meisten“ der etwa 7000 Einwohner auf der Halbinsel, vermutet der Präsident.

„Bürger wirst du mit dem Herzen, indem du dich zu den Werten unserer Verfassung bekennst.“ Die hängt in mehreren Sprachen – in silber glänzendes Metall graviert – riesengroß an einer Hauswand. Jeder hat das Recht zu lieben, einmalig zu sein, Fehler zu machen, mißverstanden zu werden, glück-lich oder auch unglücklich zu sein.

Garantiert ist ebenfalls das Recht zu weinen. Aber: „Niemand hat ein Recht auf Gewalt.“

Wahrheiten gibt es viele in Litauens Hauptstadt Wilna, die 2009 den Titel Europäische Kulturhauptstadt tragen wird. 14 Kirchtürme sieht Roman Lileikis von seinem Fenster aus, guter Durchschnitt in der Stadt, der polnische Jesuiten mit ausladendem gegenreformatorischem Barock im 16. Jahrhundert ihren Stempel aufgedrückt haben.

An die 50 Kirchen fast aller christlichen Konfessionen prägen die Silhouette der mit 360 Hektar größten Altstadt Osteuropas, welche die Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erhoben haben. Verschwunden sind die fast 100 Synagogen. Nur wenige der einst etwa 60000 Wilnaer Juden haben den Holocaust überlebt. Eine kleine Gedenktafel erinnert in der Altstadt an das größte von Nazis abgeriegelte jüdische Ghetto in Nordosteuropa. Dem offiziellen „Genozidmuseum“, das sich ausgiebig mit der sowjetischen Besetzung Litauens und den stalinistischen Verbrechen befaßt, sind die ermordeten Juden der Stadt keinen Hinweis wert.

Den Touristen zeigt sich Wilna gerne weltoffen. In Scharen bestaunen die Gäste die in frischen Pastellfarben gestrichene, barocke Pracht der Kirchen, die an schicken Cafés und Restaurants reiche Flaniermeile Piles-Straße, das Tor der Morgenröte mit seiner Wallfahrtskapelle und den vielen silbernen Votivtafeln, das klassizistische Rathaus, die 1579 gegründete Universität mit ihren 13 im italienischen Renaissancestil erbauten Innenhöfen, die Kathedrale und den (echten) Präsidentenpalast. Den Weg über die 1952 von den Sowjets gebaute „Grüne Brücke“ finden nur wenige. Am anderen Ufer der Neris frißt sich das moderne Europaviertel mit seinem Einkaufszentrum und den gläsernen Hochhäusern immer tiefer in die letzte Holzhaussiedlung der Stadt. „Hier leben die sogenannten Zigeuner“, erklärt Frank Wurft, ein junger Deutscher, der vor rund zehn Jahren nach Wilna gezogen ist. Auf seinen dreistündigen Fahrradtouren zeigt er die etwas außerhalb gelegene, mit prachtvollem Stuck verzierte Peter-und-Paul-Kirche ebenso wie das ehemalige sowjetische Einkaufszentrum „Minsk“, Plattenbau-Vororte und den früheren Kulturpalast des Innenministeriums. Überraschende Aussichten auf die Altstadt hat man schließlich von den Hügeln der Umgebung und auch von einem Parkhausdach.   Robert B. Fishman

Foto: Zwei Welten in Wilna: Das moderne Europaviertel frißt sich in die letzte Holzhaussiedlung der Stadt.


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