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11.10.08 / Alles ist Mist, und der Kapitalismus ist schuld

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-08 vom 11. Oktober 2008

»Moment mal!«
Alles ist Mist, und der Kapitalismus ist schuld
von Klaus Rainer Röhl

Letzte Woche lief zur Vorabendzeit in der ARD eine Sendung, die meine Aufmerksamkeit erregte: „So viel lebst du!“ wurde sie angekündigt. Da sollte, so hieß es, die Frage gestellt werden: Was bleibt nach 79,63 Jahren Lebenszeit? Wieso gerade diese 79 plus? Das ist zur Zeit die durchschnittliche Lebensdauer in Deutschland. Höher als in den meisten Ländern der Erde, unterschiedlich sogar in Ost und West, bei Männern und Frauen. Zufällig bin ich gerade dabei, diese statistische Durchschnitts-Lebenszeit zu überschreiten. Was ich, gestützt auf die Woche für Woche in unserer PAZ erscheinenden Geburtstags-, Jubiläums- und Goldene-Hochzeits-Anzeigen, unseren Lesern auch wünsche. Gesundheit! Was bleibt von uns, was haben wir erlebt, verbraucht, gehofft, geliebt und erlitten, das interessierte auch mich. „Das sollte uns alle interessieren“, dachte ich.

„So viel lebst du!“ hieß die 75minütige Sendung, die sich ganz heiter anließ, aber wie sich herausstellte, gar nicht so heiter gemeint war, sondern pädagogisch, volkspädagogisch. Originell war sie auch nicht, denn es handelte sich um die Adaption des englischen Vorbilds namens Human Footprint (Fußabdruck des Menschen) durch eine Kölner Filmgesellschaft mit dem originellen Namen Broadway TV. An sich hätte man gleich stutzig werden müssen. Erstens, weil die Sendung in der „Süddeutschen“ angekündigt wurde, und zweitens, weil zwei dreijährige niedliche Enkelkinderchen, ein Mädchen und Junge, immer durch die Flut von Bildern liefen und durch die Haufen von Mist, die wir im Laufe von 79 Jahren plus als Abfall hinterlassen haben – also nicht nur die zunächst verblüffende Menge von 12269 Eiern, die wir im Leben essen, von 45 Schweinen und angeblich auch noch von 4049 Schokoriegeln, die man irgendwie bildlich darzustellen versuchte. Die Schweine waren problemlos in einer Schweinefarm zu filmen, die Schokoriegel bildeten eine Pyramide, und die Eier wurden ziemlich unmotiviert vom Himmel auf den Boden geknallt und bildeten dort einen unappetitlichen Brei – wobei eine Stimme aus dem Off sogleich etwaige Einwände des Fernseh-Publikums („Wie viele Hartz-IV-Empfänger hätte man mit den vielen Eiern ernähren können?“) zu entschärfen versuchte, indem man versicherte, diese Eier hätten das Verfallsdatum längst überschritten. Wer’s glaubt, wird selig,

Gleich danach wateten die Dreijährigen wieder fröhlich und zu klassischer Musik durch den Eiermatsch. Wem da noch nicht der Gutmenschensatz „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ einfiel, hat noch nie die „Süddeutsche Zeitung“ oder das dritte Programm des WDR gesehen. Das Hinknallen von Gegenständen zu lauter Musik hatte den Filmemachern so gefallen, daß sie es mehrmals wiederholten. Höhepunkt war das Herunterprasseln von menschlichem Ausscheidungen (im Volksmund Scheiße genannt) zum Klang von Wagners Walkürenritt. Wagner übt auf die Produzenten von Scheiße jeder Art, von Schlingensief bis Peymann, eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus: Er kann sich ja nicht wehren, ist urheberrechtlich nicht mehr geschützt. So eine wirkungsvolle Musik können sich die modernen Komponisten selber nie ausdenken, am Ende war ihr Film, ihr Kabarett, ihr Theaterstück ein voller Erfolg, dank Wagners Musik. Beliebt für solche Mätzchen sind auch Strauß, Händel, Bach, Tschaikowsky. Die beiden Dreijährigen, die in dem Abfallsegen fast erstickt wären, kosten auch kein großes Honorar – die Eltern freuen sich wahrscheinlich noch, bei einer guten Sache mitgewirkt zu haben. Wer besiegte hier wen, beziehungsweise wer wollte hier wen verkackeiern?

Nach fünf Minuten Verblüffung war die Botschaft des Films auch schon klar: Wir verbrauchen zu viel, von allem, außer von guten Ratschlägen. Die 45 Schweine im Leben, die Preise sind doch sehr niedrig, würde man denken, könnte man sich ja noch leisten, ebenso wie die Eier, aber! Schweinefleisch verbraucht, das weiß jeder Körneresser, unnötig viel Energie wegen der Kosten für den Anbau des Futters (Genmais womöglich!) – und die Energie (CO2) ist doch das, was wir einsparen sollen. Das sollten meine Kölner Filmemacher mal den Chinesen erzählen, die bisher so schön gesund nur von Shop Suey und Sojasprossen lebten. Aber gerade die sind jetzt auf den Trichter gekommen, daß Fleisch nicht nur den kommunistischen Funktionären schmeckt. Alle 1,2 Milliarden wollen jetzt Schweinefleisch essen und auch alles für die Produktion und Verarbeitung Nötige tun. China hat seine Fleischproduktion um sagenhafte 150 Prozent gesteigert. 

Genau so wild wie auf Schweinefleisch sind die Chinesen bekanntlich auf das eigene Auto. Die Autoproduktion steigt überall in der Welt, außer vielleicht mal, sehr vorübergehend, in den USA. Aber das schert die Filmemacher nicht, schließlich sind es die deutschen Fernsehzuschauer, die erzogen werden sollen. Mit unseren 9,8 Autos fahren wir in 79 plus Jahren einmal zum Mond, während wir zu Fuß nur 317 Kilometer pro Jahr zurück-legen.

Die Botschaft ist klar: Alles ist Mist, und der Kapitalismus ist schuld, und unsere Kinder müssen die ganze Scheiße später ausbaden. Doch selbst die „Süddeutsche Zeitung“ lobt den Film nur sehr begrenzt: „Irgendwann folgt die finale Weisheit, daß der Mensch nach 79,63 Jahren nichts mitnehmen kann. Ein Urteil, das sich prima auf den Film übertragen läßt. Nach 75 Minuten hat man 95 Prozent der Zahlen schon wieder vergessen. Mitnehmen kann man also quasi nichts.“

Ich doch, ich bin 79,63. Ich entnehme dem Film eine wertvolle Anregung: Was in ihm fehlt, ist interessant. Wie sagt der gute alte Brecht, den man immer zitieren kann wie Goethe oder die Bibel: „Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen / was er, für Geld, da schreibt / ist gut zu lesen. Was er, umsonst, verschweigt, /die Wahrheit wär’s gewesen.“ Zur Ursache der dichterischen Einsicht: Brecht war als Emigrant in den USA erfolglos und arm, aber Thomas Mann hatte dort einen Riesenerfolg mit dem „Zauberberg“. So macht Neid und Mißgunst Weise aus uns allen.

Die Wahrheit über die Generation der 79jährigen wird in dem Gutmenschen-Film sogar einmal angedeutet: Der Mensch liest in seinem Leben 9304 Zeitungen und sieht 6,2 Jahre fern! Die heute 79jährigen gehören zum Jahrgang 1928 oder 1929. Sie haben in ihrem Leben 900 Stunden Hitler-Reden gehört, nur zwei Stunden Thälmann, haben 408 Stunden Ufa-Filme gesehen, die meisten zwei-, dreimal im Leben, auch nach 1945, haben in ihrer Verwandtschaft sechs bis sieben Tote zu beklagen. Grob geschätzt eine Million Frauen dieses Jahrgangs wurden zum Teil mehrmals von Russen, Polen und Tschechen vergewaltigt und saßen sieben Millionen Stunden in Luftschutzbunkern und Kellern. Sie aßen auch keine 45 Schweine, sondern hungerten ungefähr 50 Millionen Mal, bis die Währungsreform kam, im Osten des Landes dauerte der Mangel noch viel länger. 1945 waren sie befreit. Aber dafür mußten sie 100 Millionen Minuten Egon Bahr, Konrad Adenauer und Willy Brandt im Radio hören und nur wenige Stunden Pieck, Walter Ulbricht und Erich Honnecker, und wir mußten, was noch schlimmer war, noch 500000 mal die Lach- und Schießgesellschaft und Dieter Hildebrandt, zwei Millionen Mal „Joschka“ Fischer und vier Millionen Mal Schröder im Fernsehen ertragen. Ohne den Walkürenritt. Das alles ausgehalten zu haben und dennoch 79 plus geworden zu sein, dazu gratulieren wir uns heute. Gesundheit und ein laanges Leben!

 

Klaus Rainer Röhl wird am 1. Dezember dieses Jahres 80. www.klausrainerroehl.de


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