20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
11.10.08 / Mehr als Völlerei und Tanzwut / Aus dem Kirchweihfest hat sich in Deutschland ein vielfältiges Festbrauchtum entwickelt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-08 vom 11. Oktober 2008

Mehr als Völlerei und Tanzwut
Aus dem Kirchweihfest hat sich in Deutschland ein vielfältiges Festbrauchtum entwickelt

Knallhart waren die Forderungen, die der „Verein der Industriellen“ im Regierungsbezirk Köln 1898 dem Oberpräsidenten der Preußischen Rheinprovinz überreichte. Die Industriellen störte die Vielzahl der Kirmessen und das Kirmestreiben, „weil durch dasselbe den Arbeitern einer und derselben Fabrik häufig Gelegenheit geboten wird, fast den ganzen Sommer hindurch jede Woche an einem Nachbarort Kirmes zu feiern“. Diese „notorischen Mißstände, die unser mit öffentlichen Vergnügungen förmlich durchtränktes Volksleben geradezu zu vergiften drohen, indem sie die Arbeitslust und den Trieb zum Fortkommen vernichten, die Sittlichkeit und das Familienleben untergraben“, verlangten nach Abhilfe. Daher forderten die Industriellen die terminliche Zusammenlegung der Kirmessen und regten an, „jede weltliche Lustbarkeit, die mit dem Kirmesfeiern verbunden zu sein pflegt, zu untersagen“.

Verglichen mit diesen puritanischen Auffassungen war Kölns Erzbischof Ferdinand Graf Spiegel lebensklug-realistisch, als er 1830 auf eine Anfrage des Kölner Polizeipräsidenten nachfolgende ernüchternde Antwort gab: Die Kirche sehe kaum Möglichkeiten, von der Kanzel her der Tanzwut und Völlerei entgegenzuwirken. Man habe es bei dem oft wüsten Kirmestreiben eben mit der „bei Menschen überhaupt vorherrschenden Sinnlichkeit“, insbesondere aber mit dem „jeherigen Hange des deutschen Volkes“ zu tun, „mit Festlichkeiten jeglicher Art Eß- und Trinkgelage zu verbinden“.

Die Kirmes (in Teilen des deutschen Sprachraumes auch als „Kirchweih“ oder „Kirchtag“ mit entsprechenden Dialektformen bezeichnet) hat ihren Ursprung im kirchlichen Raum. Ursprünglich war sie der Jahrestag der vom Bischof feierlich vorgenommenen Einweihung einer Kirche (daher Kirchmeß/Kirmes) oder der Tag des Kirchenpatrons. Nach der Festmesse boten Händler den zum Fest zusammengeströmten Menschen ihre Waren und Kramsachen an; Schausteller bedienten das Unterhaltungsbedürfnis der Menge. In einem Ausdruck wie „Leipziger Messe“ ist noch die Bedeutungsentwicklung vom kirchlich fixierten Jahrmarkt bis hin zu einer großen Ausstellung erkennbar.

An einem solchen Kirchweihtag hatten die Menschen das Bedürfnis, im Kreis der Großfamilie zu schlemmen und so einmal für kurze Zeit den eher kärglichen Alltag mit seiner quälenden Arbeitsfron zu vergessen. Davor wurde geschlachtet, gekocht, gebacken. Das Festessen bestand dann meist aus einer Abfolge von Suppe, Schweine- und Rindfleisch, Bratwurst und Schinken, jeweils mit Beilagen und einem üppigen Nachtisch. In einem niederrheinischen Kirmeslied, in dem der Familienvater nur einen Ziegenbock schlachten kann, gibt es zum Nachtisch einen Brei aus „Riis, Kaneel on Jeitemelk“ (Reis, Zimt und Ziegenmilch). Und natürlich wurden Unmengen von Kuchen und Torten verspeist. Auf der Festwiese wurden Spiele und Wettbewerbe aller Art, Kinder- und Volksbelustigungen angeboten. Niederländische Maler des 15. bis 17. Jahrhunderts haben das mit Behagen dargestellt. Besonders beliebt war das Tanzvergnügen, das sich nach exzessivem Alkoholgenuß zur Tanzwut steigern konnte.

Das Fest löste sich immer mehr aus seinem liturgisch-kirchlichen Ursprung – auch wenn vielerorts der Festgottesdienst (oder eine Prozession) als Bestandteil der Festabfolge erhalten blieb. Das sieht man bereits daran, daß fast überall zweimal im Jahr Kirmes gefeiert wurde, jeweils mindestens drei Tage lang. Es gab die Frühkirmes (meist in der Maien- oder Pfingstzeit) und die Spätkirmes (zum Ende der Erntearbeiten hin). Zahlreiche Brauchtumsbestandteile anderer Feste verbanden sich mit dem Kirmesgeschehen. Folgenreich war, daß vielerorts Kirmes und Schützenfest (mit Vogelschießen und Umzügen) verschmolzen. Exzesse bei den Kirmesfeiern gaben seit dem Mittelalter immer wieder den Obrigkeiten Anlaß, mit Verordnungen und Verboten einzuschreiten. Insgesamt aber blieben die althergebrachten Kirmessen bis in unsere Zeit erhalten, wenn auch an vielen Orten entweder die Früh- oder die Spätkirmes wegfiel.

Trotz extremer Kommerzialisierung und Amerikanisierung des Kirmestreibens sind auch bei uns heute noch ähnliche Kirmesfreuden möglich. In rechter Weise genossen, können sie Herz und Sinn aufschließen und ein wenig wie ein Lebenselixier wirken.  M. M.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren