18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
18.10.08 / Der Monster-Sitter / Geschenke erhalten nicht immer die Freundschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-08 vom 18. Oktober 2008

Der Monster-Sitter
Geschenke erhalten nicht immer die Freundschaft

An einem schicksalsschweren Vormittag klingelte Nachbarin Hilde an unserer Tür. Hilde ist eine nette Nachbarin, die sich während unserer Abwesenheit um unsere Blumen kümmert. Hilde hatte ihren Hund Herkules an der Leine. Ach, was sag ich, Hund: Herkules war ein Monster! Er war so groß, daß er sich fast bücken mußte, wollte er durch eine Tür gehen. Nachhaltig erinnere ich mich an den Tag, als wir den Briefträger aus Herkules Rachen befreien mußten. Er hatte daraufhin seinen Dienst quittiert und ist als Eremit in ein Kloster gegangen.

Hilde bemühte sich, einen trauerumflorten Blick aufzusetzen. „Ich muß verreisen. Tante Hedi wird morgen beerdigt. Aber ich bin am Abend wieder zurück. Da ich Herkules unmöglich mitnehmen kann, würdet ihr doch bestimmt …?“

Ich erinnerte mich an den Briefträger. Da ich meine Familie liebe und nicht die Absicht hatte, in ein Kloster einzutreten, sagte ich laut und vernehmlich: „Kommt ja überhaupt nicht in Frage!“

„Vielen Dank! Ich wußte, daß ihr mir helfen würdet! Herkules ist gut erzogen und hört aufs Wort. Herkules, sitz!“

Herkules saß nicht, sondern leckte Hildes Gesicht.

Ich zeigte Herkules unsere Wohnung. Als er die Südseite unseres Sideboards anzuknabbern begann, lockte ich ihn in unseren ungewöhnlich gut gepflegten Garten, wo ich ihn an langer Leine an einen Eichenbaum festband. Nach fünf Minuten sah ich nach draußen. Unser gepflegter Garten hatte sich in einen Truppenübungsplatz verwandelt. Ich erlöste die Eiche von dem Monster und brachte Herkules ins Haus. Aus Dankbarkeit pinkelte er mir auf den blauen Läufer im Hausflur. Mit lehrhaft erhobenem Zeigefinger tadelte ich Herkules. Er knurrte. Ich war mir sicher, mit einem solchen Knurren kündigen sich Erdbeben an. Ich gehorchte. Obwohl Herkules schon alles gefressen hatte, was in seine Reichweite gekommen war, darunter das Tamagotchi unseres Sohnes und den linken Hausschuh meiner Frau, lockte ich ihn mit Fleischwurst in den Keller, wo er die Nacht verbringen sollte. Ich hätte nie geglaubt, daß ein so großer Hund wie ein kleines Kind heulen kann.

In der Frühe band ich Herkules wieder an die Eiche. Nach zwei Stunden der Jaulerei war er heiser geworden. Ehe er der Eiche seelisches Leid zufügen konnte, nahm ich ihn wieder ins Haus. Dabei pinkelte er erneut auf den blauen Läufer. Ich verschluckte den Tadel, war ratlos.

Da kam mir die Idee: Kumpel Bert müßte doch Ahnung von Hunden haben. Der Onkel mütterlicherseits besaß mal einen Dackel. „Ganz klar“, meinte Bert, „Herkules hat Heimweh. Du mußt ihn in seine gewohnte Umgebung bringen!“

In sechs Stunden würde Hilde hier sein. Bis dahin könnte ich in ihrer Wohnung ...

Ehe ich Hildes Haustür aufschließen konnte, hatte Herkules sie eingerannt. Er sprang auf das Sofa und rollte sich zufrieden zusammen. Da verspürte ich den Drang eines menschlichen Bedürfnisses. Als ich erleichtert das Bad verlassen wollte, knurrte es vor der Tür. „Willst du wohl brav sein, Herkules“, mahnte ich.

„Nein!“ bellte das Monster zurück. Ach ja, Hilde hatte mal erzählt, daß Herkules auf die Badezimmertür besonders scharf sei. Bekanntlich bevorzugen Einbrecher die Toilettenfenster zum Einsteigen. Wieder öffnete ich die Tür. „Du bist ein liebes Hundilein!“ Herkules dachte gar nicht daran, lieb zu sein. Ich betrachtete Hildes Zahnbürste, schnüffelte an Flakons und begann eine Oper zu schreiben. Papier war auf der Rolle ja genügend vorhanden.

Ich war gerade beim großen Finale angelangt, als mich Hilde aus der Naßzelle erlöste. Und da sah ich zwei Herkules. Ich schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Ich blinzelte durch die halbgeschlossenen Lider. Es blieben zwei Monster.

„Das ist Wotan, Herkules Bruder“, klärte mich Hilde auf. „Er gehörte Tante Hedi. Nun hat er niemanden mehr auf der Welt. Und da ihr euch inzwischen bestimmt mit Herkules und seiner Rasse angefreundet habt, dachte ich mir, ihr freut euch über Wotan als neues Familienmitglied.“

Tief im Unterbewußtsein konnte ich das Heulen eines Martinhorns hören. Der Rettungswagen brachte mich wegen eines Ohnmachtsanfalles ins Krankenhaus.     Werner Hassler


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren