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18.10.08 / Harte Nuß für Psychologen und Hirnforscher / Verblüffende »Inselbegabung«: Der US-Amerikaner Kim Peek ist geistig behindert, hat aber ein absolutes Gedächtnis

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-08 vom 18. Oktober 2008

Harte Nuß für Psychologen und Hirnforscher
Verblüffende »Inselbegabung«: Der US-Amerikaner Kim Peek ist geistig behindert, hat aber ein absolutes Gedächtnis

Hastig schlingt Kim Peek das Käsebrötchen hinunter, spült mit Cola nach. Schnell muß es gehen, denn Kim hat viel zu erzählen – deutsche Geschichte, von den Franken und den Habsburgern redet er, schreit fortwährend Geburtstage und Regierungsdaten in das Restaurant, stößt Lacher aus und immer neue Zahlen. „Nicht so laut, Kim“, mahnt der Vater.

Kim versucht es leiser, singt Melodien aus „Tristan und Isolde“, Richard Wagner, 1859 komponiert, 1865 uraufgeführt, sechs Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen. Irgendwie kommt er dann über Käpt‘n Nemo zurück zu den Habsburgern. „1438 bis 1806“, sagt er, „immer Habsburger.“ Dann zählt er sie auf, im Schnelldurchlauf, so viele Namen, alle in seinem Kopf. Bei den letzten Bissen ist Zweiter Weltkrieg. Im Hinausgehen erledigt er den Rest: „Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel. Stimmt doch, Dad?“ Dad nickt.

Im Auto geht es weiter. Kim macht das Radio an, volle Lautstärke, und singt mit. Er singt immer mit, weil er jedes Lied kennt, das er einmal gehört hat. Kim besitzt ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen. Vor dem Fenster rauscht Salt Lake City vorbei, die Stadt, in der Kim Peek jedes Haus kennt, von allen Eigentümern, von allen Mietern die Namen weiß – denn Kim hat sämtliche Adress- und Telefonbücher der Stadt gelesen. Alle, die es in der Bibliothek von Salt Lake City gibt. Gestern hat er stundenlang das Buch aus dem Jahr 1901 durchgearbeitet. Er hat es ganz nah an sein Gesicht gehalten und gelesen, die linken Seiten mit dem linken Auge, die rechten Seiten mit dem rechten Auge. Kim nennt das „scannen“. Acht Seiten schafft er in 53 Sekunden. Vergessen wird er fast nichts davon.

Es gibt Menschen, die ihn Kimputer nennen, weil er die Daten irgendwo in seinem Kopf speichert – in endloser Zahl, jederzeit abrufbar. Im Alltag ist der 56jährige Kim jedoch auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen: anziehen, Schnürsenkel binden, waschen, Zähne putzen. Kim ist – auch wenn seine Fähigkeiten einem Genie gleichkommen mögen – von Geburt an geistig behindert.

„Solch außergewöhnliches Erinnerungsvermögen wie Kim hat man, wenn Informationen ungefiltert ins Gehirn dringen und man nicht vergessen kann“, wenn man „einen privilegierten Zugang zu den tieferen Schichten im Gehirn hat“, wie Professor Allan Snyder von der Universität Sydney meint. Und das geschieht, wenn die sonst immer dominante linke Hirnhälfte ausgeschaltet wurde und stattdessen die wenig genutzte rechte Hirnhälfte wie besessen arbeitet. Bei manchen Betroffenen durch einen angeborenen Fehler, bei manchen durch einen Unfall.

Menschen wie Kim, die als Savants bezeichnet werden, geben der Wissenschaft Rätsel auf: Sie besitzen faszinierende Einzelfähigkeiten – eine so genannte Inselbegabung –, die in krassem Widerspruch zu der ansonsten durchschnittlichen oder schwachen allgemeinen Intelligenz der Betroffenen stehen.

„Oftmals haben Menschen, die in Teilbereichen außerordentliche Leistungen vollbringen, eine kognitive Behinderung. 50 Prozent der Betroffenen sind Autisten, 50 Prozent haben eine andere Hirnschädigung; der Intelligenzquotient liegt meist unter 70, kann aber auch durchschnittlich sein. Sechs von sieben Betroffenen sind männlich“, erklärt Dr. Darold Treffert. Der Psychologe aus Wis­consin beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Phänomen der Inselbegabung. Ins öffentliche Bewußtsein gelangte die Thematik vor allem durch den Film „Rain Man“, in dem Dustin Hoffman den Autisten Raymond spielt. Wer das Forscherinteresse von Treffert wecken will, muß mehr können. Er muß – wie Leslie Lemke, der blind und geistig behindert ist, nach nur einmaligem Hören das Pianokonzert Nummer eins von Tschaikowsky perfekt spielen, ohne jemals Klavierunterricht gehabt zu haben. Einfach so, weil das Stück im Fernseher als Hintergrundmusik lief.

Die Fähigkeiten von Savants sind sehr unterschiedlich ausgeprägt, meist liegen sie im künstlerischen, mathematischen oder musikalischen oder Bereich.

„Die Ursache der Inselbegabung ist noch nicht genau bekannt“, erklärt Snyder. Eine Theorie besagt, daß bei manchen männlichen Embryonen möglicherweise eine Testosteron-Vergiftung die Ursache ist: Die Entwicklung der linken Hirnhälfte dauert in der Regel länger als die der rechten, wodurch die linke Hirnhälfte geschädigt wird. Hieraus resultiert, daß sich die rechte Hirnhälfte überdurchschnittlich entwickelt. Eine weitere Theorie besagt, daß bei Savants die Filtermechanismen im Gehirn gestört sind, die nur ausgewählte Informationen aus dem unbewußten Bereich und nur für relevant erachtete Informationen aus dem Gedächtnis in den bewußten Bereich gelangen lassen, um eine Überforderung zu verhindern und den Menschen im Alltag schneller und intuitiver zu Entscheidungen zu führen.

Manche Forscher gehen davon aus, daß wir ausnahmslos alle Sinneseindrücke im Gedächtnis speichern, aber eben nur Zugriff auf die wichtigen haben, während Savants auf jede Information zurückgreifen können. So ist es auch möglich, daß Savants in wenigen Minuten umfangreiche Rechenaufgaben lösen: Sie rechnen nicht tatsächlich, sondern rufen aus einem nahezu unendlichen Fundus von „Rohbausteinen“ und Zahlenketten aus ihrem Gedächtnis die erforderlichen Elemente ab und kombinieren sie zu neuen Zahlenketten, die wiederum gespeichert werden.

Manche Forscher sind weiterhin überzeugt, daß – zumindest theoretisch – alle Menschen zu solchen Spitzenleistungen fähig seien. Allan Snyder behauptet etwa, daß savantartiges Denken auch im Gehirn „normaler“ Menschen unbewußt abliefe und lediglich durch höhere kognitive Prozesse überlagert werde. Professor Niels Birbaumer von der Universität Tübingen untermauert die These: „Wir alle sind Savants, wir müssen den Rain Man in uns nur trainieren.“

Corinna Weinert

Foto: „Seine rechte Gehirnhälfte arbeitet wie besessen“: Kim mit seinem Vater


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