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06.12.08 / Ostdeutschland gehört zu unserer Geschichte / Vertreibung aus der Erinnerung? – »Was bis 1965 zur von allen Parteien getragenen Kultur gehörte, galt 1970 als verwerflich«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-08 vom 06. Dezember 2008

Ostdeutschland gehört zu unserer Geschichte
Vertreibung aus der Erinnerung? – »Was bis 1965 zur von allen Parteien getragenen Kultur gehörte, galt 1970 als verwerflich«

Der Historiker Manfred Kittel hat intensiv über den Umgang der Bundesrepublik mit den Vertriebenen geforscht. Nachfolgend Auszüge aus seiner Rede bei der Gedenkfeier zum 60jährigen Bestehen der Landsmannschaft Ostpreußen in Bad Pyrmont:

Der Danziger Schriftsteller Günter Grass läßt in seiner Novelle über den Untergang des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ sein anderes Ich in dem Buch einen bemerkenswerten Satz sagen. Zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und zum Umgang mit dem Thema heißt es dort: „Niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen (dürfen), das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen.“ In einer Besprechung des Buches von Grass in der linksliberalen Wochenschrift „Die Zeit“ hieß es Anfang 2002 ähnlich selbstkritisch: „Man muß schon mit einer erheblichen Trägheit des Herzens geschlagen sein“, wenn man sich der späten Einsicht verweigere, daß der von der 68er-Generation jahrzehntelang befolgte „Ernüchterungsappell“ – „Wir haben die Sowjetunion mit Krieg überzogen, dem Land unendliches Leid gebracht“, „dann den Krieg verloren“ – und ergo die Vertreibung selbst verursacht – daß dieser Ernüchterungsappell nur die halbe Wahrheit enthalte ... Der Blick auf diese auslösende Ursache bleibt wichtig. Wichtig ist aber auch der Blick auf die Wurzeln, auf die viel älteren Wurzeln der Vertreibungsideologie selbst: auf die Ideologie ethnischer Säuberungen seit den Jakobinern in der Französischen Revolution. Hinzu kommt der Nationalismus der Zwischenkriegszeit nach 1918, beim Weltkriegsverlierer Deutschland, aber gerade auch in den neuen Staaten Ostmitteleuropas. Wie sagte doch zum Beispiel der polnische Generalkonsul in Königsberg 1925: „Keine Opfer können zu groß sein, um Ostpreußen in den Kreislauf des Polentums einzubeziehen.“

Historiker ganz unterschiedlicher Prägung sagen, daß die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten seit den 1960er Jahren in der Gesellschaft der Bundesrepublik „immer mehr aus dem kollektiven Bewußtsein verdrängt worden“ sei. Auch Herbert Hupka, Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen damals, 1982, hat am Ende der sozialliberalen Regierungszeit eine äußerst kritische Bilanz gezogen. Zitat Hupka: „Die Schlesier und die Ostpreußen werden zunehmend aus der deutschen Geschichte exkommuniziert; zu den Gebieten jenseits von Oder und Neiße besteht im deutschen Geschichtsbewußtsein gar kein Verhältnis mehr.“ Fast noch drastischer äußerte sich der angesehene Historiker Alfred Heuß über die Bewußtseinslücke der Bundesdeutschen in bezug auf den historischen deutschen Osten. Kaum jemand sei sich doch der Folgen der Vertreibung bewußt, eines Phänomens, „das man in Analogie zu Genozid (Völkermord) mit der Bezeichnung ‚Phylozid‘ belegen müßte: Stammesmord“. Denn es gebe seitdem „keine Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutsche mehr“ und ihre Sprachen „haben aufgehört zu existieren“.

Trifft es wirklich zu, daß die Vertreibung aus dem Osten seit den 60er Jahren „immer mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt ... worden“ ist? Eines scheint mir zunächst ganz offensichtlich: Vorher, in den 1950er Jahren, war die Lage noch eine ganz andere. Damals, während des existenzbedrohenden Kalten Krieges gegen den kommunistischen Sowjetblock – und das bedeutete eben auch: gegen die Hauptopfer des NS-Rassenwahns und zugleich gegen die Haupttäter der Vertreibung – damals sah man in der Bundesrepublik noch allen Anlaß, eher die (ost-)deutschen Leiden und Opfer herauszustreichen, die von Deutschen selbst an „Fremden“ im Osten begangenen Verbrechen dagegen weniger in den Mittelpunkt zu rücken. Prinzipiell gehörte dazu auch, die offiziell nach wie vor beanspruchten, von Polen und der UdSSR nur „verwalteten“ Ostgebiete des Deutschen Reiches zunächst natürlich so gut wie möglich im kollektiven Gedächtnis der Nation zu bewahren. Zwischen jener ersten Phase ostdeutscher „Vergangenheitsbewältigung“ in der Zeit des Kalten Krieges, in den 50er Jahren, und der dann folgenden Phase, in den zunehmend von der sogenannten „Entspannungspolitik“ geprägten 60er und vor allem 70er Jahren, gibt es offensichtlich einen ganz erheblichen Unterschied.

Man muß aber dabei klar unterscheiden: zwischen den 60er und den 70er Jahren. In puncto Erinnerungskultur waren das zwei ganz verschiedene Paar Stiefel. Für die 60er Jahre, so wird man sagen können, ist die These von einer „Vertreibung der Vertriebenen“, von ihrer Vertreibung aus der Erinnerung der bundesdeutschen Gesellschaft, so wohl kaum zu halten. Sicherlich, das ostpolitische Klima begann sich damals, nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, tiefgreifend zu wandeln. Viele machten damals Anstalten, sich geistig im Status quo einzurichten. Ich nenne nur den Verleger von „Zeit“ und „Stern“, Gerd Bucerius. Nach schweren Zerwürfnissen mit dem alternden Kanzler Adenauer und der CDU hatte Bucerius 1962 sein Bundestagsmandat niedergelegt und die CDU verlassen. Was danach geschah, liest sich in einem Rückblick des „Deutschen Ostdienstes“ wie folgt: „Er [Bucerius, M.K.] und kein anderer befahl ‚Stern’ und ‚Zeit‘ im Jahre 1962 den Kurswechsel von rechts nach links ... Das gilt auch für die Kehrtwendung dieser Blätter in der Deutschland- und Vertriebenenpolitik ... Die flinken Lehrlinge der Nannen-Schule spurteten in jenen Jahren gen Osten und brachten die Kunde, daß die Vertriebenen besser daran täten, auf Rückkehr zu verzichten, bei den Fleischtöpfen der Bundesrepublik zu verbleiben und die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen.“

Falsch an dieser Sicht ist die Fixierung auf das Jahr 1962, tatsächlich begann das Umdenken, nicht nur bei Bucerius, schon Jahre früher, Ende der 50er. Richtig ist aber, daß die Vertriebenen nun in „Stern“ und „Zeit“, und nicht nur dort – sagen wir es mal vornehm – rasch zu einer Art Lieblings-gegner wurden. Für Augsteins „Spiegel“ vor allem waren sie das schon viel länger gewesen …

Daß diese ganze Medienarbeit gesellschaftlich folgenlos geblieben wäre, läßt sich nun schwerlich behaupten. Und noch einflußreicher als die Presse war sicher das Fernsehen; das war ja in den 60er Jahren noch ein faszinierend neues Medium. Gleich im Dutzend fochten Fernsehjournalisten, nicht nur im WDR und im HR, oft genug übrigens auch im Bayerischen Rundfunk, vehement für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze …

Sicherlich, man muß auf der anderen Seite sehen, daß es auch eine Gräfin Dönhoff gab, die bedeutende „Zeit“-Journalistin, jene Ostpreußin, die noch 1962 ein bewegendes Erinnerungsbuch vorgelegt hatte: „Namen, die keiner mehr nennt.“ In der „Zeit“ war Dönhoff selbst immer wieder darum bemüht, daß der ostpolitische Wandel, den sie wollte, nicht allzu viele Kollateralschäden in der Erinnerungskultur anrichtete. In der Realität aber ist dann trotzdem leider oft genau dieses eingetreten …

Wichtige Teile der bundesdeutschen Gesellschaft, der Medien, auch des intellektuellen Milieus hatte bereits in den 60er Jahren eine Tendenz erfaßt, die Geschichte des „deutschen Ostens“ und seines Untergangs ausschließlich durch die Brille der Entspannungspolitik zu sehen – oft im vorauseilenden Gehorsam gegenüber den nationalkommunistischen Regierungen in Warschau, Prag und Moskau. Dabei wurden dann nötigenfalls auch polnisch- oder russisch-nationalistische Argumente immer wieder einseitig aufgegriffen.  

Und trotzdem: Das Gesamtbild der Erinnerungskultur sah noch sehr zweideutig aus damals. Nicht nur wegen der auflagenstarken Springer-Presse; sondern vor allem auch deshalb, weil in den 60er Jahren noch beide große Volksparteien, CDU/CSU wie SPD, um die Millionen Stimmen der Heimatvertriebenen rangen. Und deshalb meinten die Parteien auch, ein enges Verhältnis zu den Landsmannschaften pflegen zu müssen. Es galt ja, sich die Erbmasse des zerfallenden „Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) zu sichern. Dabei hat die SPD sich zeitweilig sogar liebevoller um die Vertriebenen gekümmert als die CDU. Herbert Wehner vor allem. Sozialdemokraten wie der Sudetendeutsche Wenzel Jaksch oder der Ostpreuße Reinhold Rehs waren jetzt bedeutende Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen …

Welch weiten Weg hat aber dann die SPD in der Dekade des ostpolitischen Übergangs in den 60er Jahren zurückgelegt! … Was mindestens bis 1965 zu der von allen Parteien gemeinsam getragenen politischen Kultur gehört hatte: am Recht auf die Heimat festzuhalten, eben diese Position galt schon fünf Jahre später, 1970, plötzlich als moralisch vollständig verwerflich, politisch inkorrekt, ja rechtsradikal. Kann man den Opfern der Vertreibung tatsächlich einen Strick daraus drehen, so frage ich mich, daß sie nicht in der Lage waren, in demselben Tempo entspannungspolitisch umzudenken wie der übrige, größere Teil der bundesdeutschen Gesellschaft, dem das Schicksal des Heimatverlustes erspart geblieben war … 

Daß die Bundesregierung dann den aufsässigen Landsmannschaften den Geldhahn zugedreht hat, das war machtpolitisch konsequent – nur erinnerungskulturell produktiv war das alles nicht. Im Gegenteil, viele, viele Zeitgenossen, übrigens nicht nur im sozialliberalen Milieu, meinten nun, etwas für Frieden und Entspannung zu tun, wenn sie „die Geschichte Ostdeutschlands leugneten“, wenn sie Breslau nur noch Wroclaw nannten, wenn sie Patenschaften für Landsmannschaften aufkündigten beziehungsweise einschlafen ließen oder wenn sie bei den deutsch-polnischen Schulbuch-empfehlungen politische Konzessionen zu Lasten historischer Fakten machten. Wie meinte Bundeskanzler Helmut Schmidt dazu, sehr diplomatisch, auf dem Hamburger Historikertag 1978: Die polnischen Wissenschaftler hätten sich „an der einen oder anderen Stelle ein bißchen zu entschlossen durchgesetzt“ …

Vor allem eine Entscheidung der Bundesregierung hatte negative Signalwirkung für die Erinnerungskultur: Ich meine den Beschluß von 1974, eine vom Bundesarchiv ... fertiggestellte Dokumentation der Vertreibungsverbrechen nicht zu veröffentlichen – letztlich mit Rücksicht auf den aktuellen Entspannungskurs Richtung Sowjetblock. Indem damit sozusagen regierungsamtlich der Versuch unternommen wurde, eine neue Vertreibungsdebatte zu unterdrücken, waren die Zeichen der Zeit ... auf Verdrängung gestellt …

Schien es jetzt nicht nötig, den alten deutschen Osten definitiv zu vergessen, um wenigstens die Option auf eine Wiedervereinigung West- und Mitteldeutschlands, der Bundesrepublik und der DDR, langfristig zu wahren? Nicht nur die vaterlandslosen Gesellen haben so argumentiert. Und waren die Ostdeutschen, nach einem gängigen Vorurteil, nicht ohnehin die größten Nazis gewesen und besonderen Mitgefühls nicht würdig? Man sehe sich dazu nur einmal alte Spielfilme an: „Am grünen Strand der Spree“ (von Hans Scholz) etwa, anno 1960. Dort mußte wieder einmal ein Ostdeutscher, der Ex-Unteroffizier Jaletzki, als übelste Figur des ganzen Stückes herhalten. Und das obwohl die Ostdeutschen in der NS-Führung tatsächlich sogar eher unterrepräsentiert gewesen waren, …

Es ist auch aufschlußreich, einmal den Stellenwert zu vergleichen, den die Fragen der strafrechtlichen Verfolgung von NS- beziehungsweise Vertreibungsverbrechen eingenommen haben – in der gerichtlichen Realität wie in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahre. NS-Verbrechen waren von Anfang an in zehntausenden Ermittlungsverfahren verfolgt worden. Wir wissen, daß es dabei zu einer Reihe höchst problematischer Unterlassungen kam. Aber letztlich bleibt doch entscheidend, daß Staatsanwälte und Richter in den von der Öffentlichkeit meist viel beachteten Prozessen einen herausragenden Beitrag zur zeitgeschichtlichen Aufklärung über das Dritte Reich geleistet haben. Und die Vertreibungsverbrechen? Die sind in aller Regel nicht nur nicht gerichtlich verfolgt worden – verstörender noch wirkt ein anderer Befund: Nämlich, daß die praktische Schwierigkeit, der Täter habhaft zu werden, der Täter, die ja meist hinter dem Eisernen Vorhang in kommunistischen Staaten lebten, daß dies nicht einmal größere gesellschaftliche Debatten ausgelöst hat in der Bundesrepublik. Mitte der 60er Jahre, es war einmal mehr eine Diskussion um die Verjährung von NS-Verbrechen im Gang, unternahmen einige Landsmannschaften entsprechende Vorstöße: Sie regten an, zumindest eine zentrale Erfassungsstelle für Vertreibungsverbrechen zu schaffen, so ähnlich wie sie 1961 in Salzgitter eingerichtet worden war für die ebenfalls schwer zu verfolgenden Schandtaten des DDR-Regimes. Allein, der Vorstoß der Landsmannschaften blieb so gut wie ohne Widerhall in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik ...

Nach 1982 ging es zwar wieder ein Stück besser in der ostdeutschen Kulturarbeit. Aber erst nach 1989 haben sich die Konstellationen dann grundsätzlich gewandelt, vollends mit der Osterweiterung der EU nach 2000. Die „deutschen Geschichten im Osten Europas“, im Weltkrieg oft ganz zu Ende gegangen, eignen sich eben noch immer als geistige Pfeiler für den Bau von Brücken zwischen den östlichen „Beitrittsländern“ und der Bundesrepublik. Auch deshalb sollten wir unsere kollektive Erinnerung nicht allzu ausschließlich auf das schreckliche Ende richten, sondern den Akzent zugleich auch darauf legen, was die Deutschen vor der Vertreibung über viele Jahrhunderte, keineswegs permanent im Streit, sondern oft genug in produktiver Kooperation mit den östlichen Nachbarvölkern geleistet haben. Das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin wird diese historische Tiefendimension sicherlich zu berücksichtigen haben … Weder für die Deutschen noch für unsere östlichen Nachbarn wäre es gut, wenn die Deutschen das Ende ihrer Geschichte im Osten Europas weiterhin ungefähr ebenso behandeln wie das Ende ihrer Kolonialherrschaft in Ostafrika. Denn Schlesien oder Ostpreußen, das waren keine kolonialen Episoden, das waren Länder, die genauso zu unserer deutschen Geschichte gehören und immer gehören werden wie Oberbayern oder Niedersachsen.

 

Prof. Dr. Manfred Kittel arbeitet beim Institut für Zeitgeschichte München. Der 1962 Geborene ist Autor des Buches „Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten und die Gesellschaft der Bundesrepublik (1961–1982)“.

Foto: Noch bis 1948 lebten einzelne Flüchtlingsfamilien wie in den Bunkerwohnungen des Lagers Empelde nur durch Decken voneinander abgetrennt: Das Verständnis für die vertriebenen Ostdeutschen nahm ab den 60er Jahren rapide ab.


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