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13.12.08 / Vier Jahre Hartz IV, vier Jahre Chaos / Die Sozialgerichte der deutschen Hauptstadt werden der Klageflut nicht mehr Herr

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-08 vom 13. Dezember 2008

Vier Jahre Hartz IV, vier Jahre Chaos
Die Sozialgerichte der deutschen Hauptstadt werden der Klageflut nicht mehr Herr

Hartz IV schafft Arbeit. So viel Arbeit, daß die Angestellten des Berliner Sozialgerichts sich um ihren Job keine Sorgen zu machen brauchen. Immer mehr Klagen gehen dort ein, die sich um Hartz IV drehen. Das Gericht, so haben Insider errechnet, bräuchte ein volles Jahr, um alle Altfälle abzuarbeiten. Und es werden immer mehr. Ein Blick ins Innenleben einer neuen Mammutbehörde.

Susanne Herman haßt die Bundesagentur für Arbeit. Die 48jährige muß regelmäßig dort vorstellig werden, obwohl sie Arbeit hat. Die Friseuse gehört zu den „Aufstockern“, die so wenig verdienen, daß das Amt ihnen etwas dazugeben muß.

Gerade wurde bekannt, daß die Zahl dieser Aufstocker um weitere 100000 gestiegen ist und jetzt bei über 1,3 Millionen liegt. Auch die Region Berlin-Brandenburg ist stark davon betroffen: 71000 Brandenburger erhalten staatliche Hilfe. In Berlin sind es noch einmal 60000. Die Spreemetropole gilt auch als die Hauptstadt der Niedriglöhne. Hier brennt das Problem besonders. Auf 1000 Bürger kommen nur 462 Arbeitsplätze. Zum Vergleich: In Frankfurt am Main sind es 901. Die Stundenlöhne sind in Berlin entsprechend niedrig.

Die Betroffenen, ob berufstätig oder nicht, müssen jeden Cent umdrehen. Die Gesetze sind oft so unverständlich, kompliziert und zweifelhaft, daß immer mehr Hartz-IV-Empfänger vor Gericht ziehen. Die Berliner Justiz droht deswegen unter einer Flut von Klagen unterzugehen.

Doch eine Flutwelle, das stellte „Der Spiegel“ vor einer Woche fest, bedeute, daß es auch irgendwann wieder Ebbe gebe. Gibt es aber nicht. Die vielen Klagen gegen das Hartz-IV-Gesetz sind zum Normalzustand geworden. Vier Jahre Hartz IV bedeutet auch vier Jahre Dauerchaos am Sozialgericht.

Das Sozialgericht Berlin ist das größte seiner Art in Deutschland. 40 neue Richter sollen nun eingestellt werden. Die beschäftigen sich mit so wichtigen Fragen wie „Ist die Mietkaution Vermögen?“ oder „Ist Schmerzensgeld ein Einkommen?“

Zu den besonders skurrilen Fällen gehört die Frage des Krankenhausessens: Ein Hartz-IV-Empfänger muß ins Krankenhaus. Dort erhält er drei Mahlzeiten am Tag. Das Jobcenter behauptet nun, diese Verpflegung sei eine geldwerte Leistung. Also werden vier Euro vom Regelsatz pro Tag abgezogen. Per Bescheid.

Gegen solche Bescheide können Hatz-IV-Empfänger unbürokratisch Widerspruch einlegen und später Klage erheben. Ein Prozeß vor dem Sozialgericht kostet normalerweise nichts, und einen Anwalt müssen die Kläger auch nicht mitbringen. Und wer seinen Antrag nicht selbst formulieren kann, auch dem wird geholfen. Im Erdgeschoß gibt es eine Rechtsantragsstelle, die für schreibfaule oder formulierungsschwache Zeitgenossen die Anträge schreibt. Wer doch einen Anwalt hinzuzieht, der bekommt ihn oft vom Staat gestellt. Das Zauberwort heißt „Prozeßkostenhilfe“.

Deswegen wird gegen ein Prozent aller Bescheide schließlich Klage erhoben. Ein Prozent ist nicht viel. Bei 1,5 Millionen Bescheiden pro Jahr aber schon. Wenn das Gericht am Ende ein Urteil fällt, beträgt die Chance für den Kläger etwa 50:50. Das ist eine recht hohe Gewinnchance – und zwar ohne Risiko.

Es sind Leute wie Michael Reischmann. Sein Fall wurde kürzlich verhandelt. Der Kläger, ein Mann in Cowboy-Klamotten und mit Schnauzbart, hatte sich von seiner Mutter 500 Euro geliehen, um nach Thailand zu fliegen. Dort ließ er sich von seiner Frau scheiden, die ihn vor einer Weile sitzengelassen hat.

Das Jobcenter sah es so: Das 500-Euro-Darlehen der Mutter war Einkommen in Reischmanns Haushaltskasse. Also zog es den Betrag von seinen Bezügen ab. Dagegen klagte Reischmann und gewann.

Mit so etwas schlagen sich die Gerichte herum. Die Kosten, die dabei für die Gemeinschaft anfallen, sind regelmäßig höher – oft sogar um ein Vielfaches. Aber der Gerechtigkeit, genauer: dem hohen Prinzip der sogenannten Einzelfallgerechtigkeit, ist genüge getan. So ist das im deutschen Sozialstaat.

Hartz IV wurde einmal eingeführt, um den Wohlfahrtsstaat zu vereinfachen. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden zusammengelegt. Aus Einzelleistungen der Sozialhilfe wurde der pauschale Hartz-IV-Satz: Regelleistung (derzeit 351 Euro) plus Miete plus Heizung. Damit sollte alles abgedeckt sein.

Doch das Gegenteil ist nun der Fall: Immer mehr Leute produzieren immer mehr Papier, reichen immer öfter Klage ein, senden täglich rund 900 Briefe allein an das Berliner Sozialgericht. Die durchschnittliche Prozeßdauer liegt bei 13 Monaten – und das in Angelegenheiten, in denen es oft nur um eine Handvoll Euros geht.      Markus Schleusener

Foto: Viel Arbeit für die Gerichte: 2009 sollen 40 zusätzliche Richter eingestellt werden, weil das jetzige Personal in der Klageflut ertrinkt.


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