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03.01.09 / Eine Notgemeinschaft / Nicht immer wissen die Menschen ihr kleines alltägliches Glück zu würdigen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-09 vom 03. Januar 2009


Eine Notgemeinschaft
Nicht immer wissen die Menschen ihr kleines alltägliches Glück zu würdigen

Manchmal schweißt das Schick­sal merkwürdige Gemeinschaften zusammen beziehungsweise zwingt sie zu ihrem Glück.

Benommen legte Sabrina den Hörer auf die Gabel. Was ihre Schwester ihr da soeben mitgeteilt hatte, konnte man schon als echte Hiobsbotschaft bezeichnen. Wobei Sabrina allerdings nicht zu sagen gewußt hätte, was sie eigentlich mehr erschreckt hatte: der Autounfall ihres Schwagers oder die Aussicht, einen ganzen Nachmittag lang ihren Neffen auf dem Hals zu haben. Natürlich mochte sie den Kleinen gut leiden; aber sich stundenlang mit ihm beschäftigen zu müssen – diese Vorstellung erfüllte sie schon jetzt mit Grausen.

Doch ihr blieb keine Wahl. Versprochen war versprochen. Schließlich hatte sie noch deutlich die völlig verstört klingende Stimme ihrer Schwester im Ohr: „Sei so lieb, Bine, und paß auf Jan auf, bis ich aus dem Krankenhaus zurück bin. Es kam alles so plötzlich, ich weiß einfach nicht, wohin mit dem Jungen.“

„Aber das ist doch selbstverständlich, daß ich Jan solange zu mir nehme“, hatte Sabrina pflichtschuldigst versichert.

„Du bist ein Engel! Ich werde Jan auch einschärfen, sich ja gut zu benehmen. Deine schöne, gepflegte Wohnung – daß er bloß nichts kaputtmacht!“

Genau diese Befürchtung hatte auch Sabrina. Auf Eleganz und makellose Sauberkeit legte sie allergrößten Wert. Sie liebte es, sich mit schönen Dingen zu umgeben und zeigte sich auch sonst recht anspruchsvoll. Ein stilvolles Essen mit guten Freunden, Opern-und Konzertbesuche, anregende Gespräche bei einem Glas Wein – dies alles spielte eine wichtige Rolle in ihrem Leben, das sich so sehr von dem ihrer verheirateten Schwester unterschied.

Wie Uschi klebrige Fingerabdrücke auf dem Mobiliar, Berge von Schmutzwäsche und Essenskrümel in den Polsterritzen ertragen konnte, war Sabrina schon immer ein Rätsel gewesen.

Als es zehn Minuten später an der Tür klingelte, hatte sie ihre Bedenken jedoch soweit verdrängt, daß sie ihre Schwester tröstend in den Arm nehmen und Jan aufmunternd durchs struppige Blondhaar streichen konnte. „Mach dir keine Sorgen, Liebes! Jan ist bei mir gut aufgehoben, und du kannst in aller Ruhe die Untersuchung abwarten und mit den Ärzten sprechen.“

Ein letztes Winken vom Balkon, dann zog es Jan auch schon vor den Fernseher: „Gleich kommt die Monster-Serie! Zu Hause darf ich die auch immer gucken!“

„Monster-Serie?“ Sabrina runzelte die Stirn, Doch ehe sie ins Programmheft schauen konnte, hatte sich Jan bereits der Fernbedienung bemächtigt. Sabrina bezweifelte, daß die dinosaurier­ähnlichen Gestalten, die da grummelnd über den Bildschirm tappten, sich besonders positiv auf die geistige Entwicklung ihres Neffen auswirkten. Aber die Aussicht, zumindest für die nächste dreiviertel Stunde ihre Ruhe zu haben, ließ ihren pädagogischen Eifer rasch erlahmen.

Während Jan gebannt das Treiben seiner schuppigen Lieblinge verfolgte, inspizierte Sabrina ihre Essensvorräte. Früher oder später würde der Junge Hunger bekommen, und Nudeln mit Champignonrahm schienen ihr genau das Richtige zu sein. Zumal die helle Soße keine Flecken hinterließ, falls Jan beim Essen kleckern sollte!

Appetit hatte dieser jedoch einzig und allein auf Pizza. So sehr Sabrina ihn davon auch abzubringen ersuchte: Pizza mußte es sein. Wozu gab es schließlich einen Lieferservice? „Mama ruft da auch alle Weile an“, behauptete er treuherzig. Seine bettelnden Blicke weichten jedes Prinzip auf. Und so orderte Sabrina zum ersten Mal in ihrem Leben Pizza, Cola und Pommes frites.

Ungewohnte Düfte waberten durch die Wohnung, als Jan sich Minuten später begeistert auf das bunte Durcheinander stürzte. Hoffentlich bleibt der Geruch nicht in den Gardinen hängen, zog es Sabrina durch den Kopf, während sie Jan am Eßtisch gegenübersaß und scharf aufpaßte, daß seine ketchupverschmierten Finger den gepolsterten Armlehnen nicht zu nahe kamen.

Um den Anblick der fettigen Pappteller ertragen zu können, hatte sie sich ein Glas Rotwein eingeschenkt, von dem sie jetzt ab und zu kostete. Doch entweder war der Wein zu warm, oder das Aroma von Pommes und Pizza hatte ihre Geschmacksnerven betäubt – von Genuß konnte jedenfalls keine Rede sein. Angewidert stellte sie ihr halbvolles Glas ab – genau in dem Moment, da Jan beim mühsamen Zerschneiden der Pizza mit dem Messer wegrutschte und dabei Cola- und Rotweinglas vom Tisch fegte.

Erstaunlicherweise ging nichts zu Bruch. Der dicke Schurwollteppich dämpfte den Aufprall der Gläser, so daß zumindest keine Splitter durch die Gegend flogen. Wie gelähmt starrte Sabrina auf die rötlichbraune Pfütze die nun in Windeseile in den Flor einsickerte. Du mußt sofort Salz darauf streuen, befahl ihr der Verstand, aber statt aufzuspringen blieb sie kraftlos sitzen. Erst als sich zwei Ärmchen um ihren Hals schlangen, ließ die Schock­wirkung nach.

„Bitte nicht schimpfen!“ hörte sie Jan flüstern. „Ich hab’s doch nicht gewollt …“ Sie blickte auf, sah in die großen reuevollen Augen ihres Neffen, und plötlzlich wich jeder Druck von ihr.

„Nein, ich schimpfe nicht. Und der Mama erzählen wir auch nichts davon. Weißt du, es gibt so gute Fleckenmittel, davon wird der Teppich wieder wie neu. Und wenn nicht“, sie lächelte, lächelte wie befreit: „Nun, dann legen wir einfach einen hübschen kleinen Läufer darüber…“

Jan nickte getröstet und sein Vertrauen wurde auch dann nicht enttäuscht, als zwei Stunden später das Telefon klingelte: „ich bin’s, Uschi! Stell dir vor, Achim hatte wirklich Glück im Unglück! Keine inneren Verletzungen, sagen die Ärzte, nur eine leichte Gehirnerschütterung, Prellungen und zwei gebrochene Rippen. Ich komme jetzt gleich zu dir und

hol’ den Jungen ab. Sag, war er denn wenigstens brav?“

„Aber ja“, erwiderte Sabrina und zwinkerte ihrem ängstlich lauschenden Neffen zu. „In gewisser Hinsicht war es geradezu heilsam für mich, ihn hierzuhaben …“

Renate Dopatka

Haben eine erstaunlich Mache: Wer kann Kinderaugen schon böse sein?  Bild: ddp


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