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03.01.09 / Der Bilderbuch-Opa / Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr – Die Zeit nach 1945 stellte ihre eigenen Herausforderungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-09 vom 03. Januar 2009

Der Bilderbuch-Opa
Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr – Die Zeit nach 1945 stellte ihre eigenen Herausforderungen

Über den vieldeutigen Begriff „Glücklich“ muß ich oft nachdenken. Immer wieder fällt mir nämlich auf, wie unterschiedlich die Menschen das „Glücklich-Sein“ empfinden.

Opa Kravanczewski sagt, er sei ein glücklicher Mann. Und er hat gewiß viel Ungemach in seinem langen Leben erfahren. Ich weiß, daß er als jugendlicher Volkssturmmann im letzten Aufgebot seine Heimat verteidigte. Das war damals in Westpreußen. Er geriet in russische Gefangenschaft, wußte nicht, ob er seine Mutter und die liebe Clara wiederfinden könnte. Nach vielen Jahren stellte das Rote Kreuz eine Verbindung her. Der deutsche Gefangene Herbert Kravanczewski erfuhr im Arbeitslager zu Workuta / Sibirien, daß Clara Neumann, ihr achtjähriges Töchterchen Helga und die Mutter Anna Kravanczewski, alle nun wohnhaft in Soltau / Niedersachsen, den Freund, Vater und Sohn suchen ließen.

„Und das soll wahr sein?“ stammelte der an schwere Arbeit und viele Entbehrungen gewöhnte Mann. Konnten seine anteilnehmenden Kameraden dieser Nachricht Glauben schenken? – Gewiß, manchmal hatte Herbert, ihr jüngster Kamerad, von seiner großen Liebe gesprochen. Der phantasiert mal wieder! dachte dann wohl sein Nebenmann, der auch die Not der Einsamkeit und das Heimweh kannte. Rasch verbreitete sich nun aber diese wundersame Nachricht im Lager. Herbert mußte zur Lagerleitung kommen, bekam Briefpapier, Tinte und Feder und sollte sofort die Antwort schreiben. Doch die großen, schwieligen Hände des Mannes zitterten, als er ungelenk mit großen Buchstaben sein Lebenszeichen aufs Papier brachte. Ab ging dann die Post ins ferne Niedersachsen / Bundesrepublik Deutschland. Wo mochte das sein?

Immer wieder wanderten erwartungsvolle Sehnsuchtsträume der Gefangenen zurück und voraus. Sie stellten sich hoffnungsvolle Zukunftsbilder vor. Aber manchen Mann plagte auch die Angst. Von der großen Not im klein gewordenen Deutschland hatten die Gefangenen erfahren, aber auch, daß es wieder aufwärts gehe in der Heimat. Wie würden sie ihre Familie finden? Blieb die Frau treu, würden die Kinder sich ihres Vaters erinnern?

Es dauerte Wochen, bis Mutter, Braut und Töchterchen Herbert Kravanczewskis Antwort erhielten und endlich wußten: Herbert lebt! Welch ein Jubel! Dennoch reisten noch etliche Briefe von Workuta nach Soltau, von Niedersachsen nach Sibirien, bis endlich im Jahre 1955 ein Mädchen mit blonden Zöpfchen schulfrei bekam, um nach Friedland zu fahren, den Vater zu begrüßen. Während der langen Wartezeit hatte es auf der Wiese und am Straßenrand in der Nähe des Bahnhofs und Durchgangslagers an der deutsch-deutschen Grenze Wiesenblumen gepflückt. Als die Ankunft des Zuges gemeldet wurde, zitterte der Blumenstrauß in der Hand des Kindes, das zwischen Mutter und Großmutter inmitten all der Frauen stand, die bald unter den vielen feldgrau gekleideten Männern ihren Heimkehrer zu begrüßen hofften.

Wie würde das nun neunjährige Mädchen auf Herbert Kravan-czewski, der ihr als lausbübischer Schuljunge vom Foto her vertraut war, auf den Mann reagieren, der ihr Vater sein wollte und auch die Mutter in Besitz nahm? – Helga zweifelte nicht. Aber Anna Kravenczewski sinnierte: „Es ist so viel passiert in den letzten zehn Jahren! – Daß sein Vater gefallen war, hat Herbert noch in Thorn erfahren. Da war er Schüler des Gymnasiums – mein Trost, meine Hoffnung, mein Stolz!“

Was nach der Wiedersehensfreude alles geschah, muß mit wenigen Worten erzählt werden: Glückliches Umarmen, Tränen der Freude und Sorgen, Mißverständnisse, Hochzeit, Vaterfreuden, Behördengänge, Abschluß der Ausbildung zum Autoschlosser, eine eigene kleine Wohnung für die Mutter, Häuschen bauen für die wachsende Familie, Meisterprüfung! – So liefen die Jahre durchs Zeitgeschehen.

Großmutter Anna, inzwischen alt geworden, wurde von Herbert und Clara in Obhut genommen, als deren Kinder Helga, Johanna und Klaus flügge geworden waren. Bald mußten Opa Herbert und Oma Clara das Grab der Mutter pflegen. Auch Helgas Kinder hatten die Großmutter gern, und der kleine Herbert, Klaus’ Sohn,

konnte bald auch schon den Namen seines Großvaters auf dem Grabstein lesen. Denn auch dieser allen unbekannte Gefallene, sollte nicht vergessen sein, obgleich seine Frau und sein Sohn nie erfahren konnten, wo er zur letzten Ruhe gebettet worden war.

Nachdem Kinder und Enkel dem goldenen Jubelpaar Clara und Herbert ein liebevoll gestaltetes Fest ausgerichtet hatten, an dem die bereits kränkelnde Clara frohgemut teilnehmen konnte, holte ein plötzlicher Herztod sie in die Ewigkeit. Es gab nicht viel Zeit und Gelegenheit, auch für den alten Herbert nicht, sein Tagwerk trauernd zu beginnen und heimwehkrank zu beschließen. Waren doch seine Tochter Helga als verwitwete und berufstätige Großmutter mit Luischen, der

studierenden Enkelin, die fast so jung wie damals seine liebe Clara eine Mama geworden war, zu ihm in das kleine Eigenheim gezogen. Und er, der stets arbeitsame und noch rüstige Mann, hat sich in seinen späten Jahren auf die Betreuung der nun vierjährigen Urenkelin eingestellt. Er hilft der kleinen Lena beim Anziehen, und wenn die beiden gefrühstückt haben, machen sie sich auf den Weg zum Kindergarten. An der Hand des Urgroßvaters mag das Kind so gern „wandern“ wie damals seine Kinder und Enkel. Nun aber kann er, was damals nicht möglich war, mit Lenchen ohne Zeitdruck „feiern“, bis Helga von der Arbeit nach Hause kommt.

„Was aber heißt denn ‚Feiern‘ für den alten Herrn und das aufgeweckte Mädelchen?“ wollte ich wissen und durfte es erleben:

Uropa sitzt bereits auf dem Sofa. Das Kind schleppt sein liebstes Bilderbuch herbei, legt es dem Mann auf den Schoß, fragt und fragt, zeigt auf die verschiedensten Bilder und versucht auch schon, dem geduldigen Mann zu vermitteln, was es bereits weiß.

Helga, des Urgroßvaters Überraschungstochter, war schon während unserer Schulzeit meine beste Freundin. Und darum komme ich immer noch als Besucherin gern in das gastliche Haus. Ihr Vater öffnet mir die Tür. Klein-Lena bietet mir den Sofaplatz an ihres Urgroßvaters anderer Seite an, zeigt mir das „liebste Buch“, klettert wieder auf ihren Platz, legt es dem Mann so auf den Schoß, damit auch ich teilhaben kann an der Feier-, der Bilderbuchstunde.

„Und wie heißt dieses geliebte Buch?“ frage ich. „Kinderlexikon!“ antwortet Lena stolz, und der alte Herr ergänzt: „Da kann auch ich noch viel draus lernen! Denn man darf ja auch nicht falsch antworten, wenn wißbegierige Kinder fragen. Und – das habe ich mir gar nicht vorstellen können: Glückliche Stunden erlebe ich dabei auch noch als Urgroßvater.“

Lenchens feine Ohren gewahren: Großmutter schließt die Haustür auf! „Oma!“ jubelte das Kind und hüpft vom Sofa. Herbert Kravanczewski lächelt: „Du kannst dich hier überzeugen!

Auch ein Urgroßvater erlebt als ‚Bilderbuchopa‘ glückliche Stunden!“

Anne Bahrs

Das Durchgangslager Friedland bedeutete für viele den Beginn eines neuen Lebens: Das Heimkehrerdenkmal legt Zeugnis für die vielen Einzelschicksale ab. Bild: ddp


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