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24.01.09 / Drama in zehn Akten / Kershaw über Wendepunkte des Krieges 1940 bis 1941

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-09 vom 24. Januar 2009

Drama in zehn Akten
Kershaw über Wendepunkte des Krieges 1940 bis 1941

„Die Idee zu diesem Buch verdanke ich einem beiläufigen Gespräch in der Küche … während wir darauf warteten, daß das Wasser im Kessel zu kochen begann.“ So bemerkt Historiker und Altmeister Ian Kershaw, wie er beinahe zufällig zu seinem neuen Werk kam. Darin kocht der Hitler-Biograph ein schon häufig beackertes Thema auf, den Zweiten Weltkrieg, und nimmt zentrale Siedepunkte aus den Jahren 1940 und 1941 unter die Lupe. „Schlüsselentscheidungen“ nennt Ker-shaw diese Momente, die den Kriegsverlauf massiv beeinflußten oder – glaubt man dem etwas marktschreierischen Untertitel des englischen Originals – sogar die Welt veränderten. Dementsprechend liest sich das Buch wie ein zeithistorisches Drama in zehn Akten. Als Hauptfiguren treten die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan auf. Ihre Gegenspieler sind die Alliierten Großbritannien, die USA und die Sowjetunion.

Der Vorhang geht auf, als der britische Premierminister Churchill im Mai 1940 beschließt, trotz der eklatanten Niederlage Frankreichs und eigener militärischer Defizite weiterzukämpfen. Aus Angst vor einem Bündnis der Engländer mit den Russen fällt Hitler bald darauf die Entscheidung, die Sowjetunion anzugreifen, bevor diese voll aufgerüstet wäre. Aus sowjetischer Sicht fast tragisch erscheint der Entschluß Stalins, präzise Geheimdienstinformationen zu ignorieren und keine Vorsorge gegen einen deutschen Angriff zu treffen. Eine entscheidende Wende bringt der amerikanische Präsident Roosevelt im Sommer und Herbst 1941. Er erklärt seine Bereitschaft, entgegen der isolationistischen öffentlichen Meinung im Land in einem unerklärten Krieg gegen das Deutsche Reich nicht nur Churchill, sondern auch Stalin zu unterstützen. Das grausame Zwischenspiel des japanischen Bombenangriffs auf Pearl Harbour läßt Roosevelts Worten im Dezember 1941 mit dem Kriegseintritt der USA Taten folgen. Die Tragödie menschlicher Perversität gipfelt schließlich in Hitlers Beschluß Ende 1941, sämtliche Juden Europas auszulöschen. Obwohl der Krieg noch vier Jahre weitertobt, fällt der Vorhang an dieser Stelle.

Geschichtsinteressierte Laien, die sich nicht durch die epische Länge des 750-Seiten-Wälzers abschrecken lassen, finden hier einen wertvollen Schlüssel zum Verständnis des Zweiten Weltkriegs. Vermeintlich schicksalhafte Ereignisse bringt der Autor plausibel in Zusammenhang und erläutert detailliert deren Ursachen und Folgen. Er rekonstruiert überzeugend die Verläufe, zeigt aber auch mögliche Alternativen auf. Einzigartig dabei sind die Quellenvielfalt, auf die sich die Analyse stützt, sowie der Wechsel zwischen den Perspektiven der jeweiligen Beteiligten. Zweifelhaft scheint jedoch die Geschichtsmächtigkeit, die Kershaw dem Individuum beimißt. Waren denn Roosevelt, Stalin und Hitler tatsächlich unabhängige Entscheidungsträger, oder handelten sie nicht vielmehr vor dem Hintergrund politischer Rivalitäten, historischer Altlasten und strategischer Zwänge? Einzige Ausnahme bilden die Ruhmsucht und groteske Selbstüberschätzung des italienischen Diktators Mussolini. Sein eigenmächtiger Griechenlandfeldzug endete im Fiasko. An seine Grenzen stößt Kershaw in seiner sonst ganz militärisch-politischen Darstellung im Kapitel über den Holocaust.              Sophia E. Gerber

Ian Kershaw: „Wendepunkte – Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg“, Deutsche Verlagsanstalt, München 2008, 736 Seiten, 39,95 Euro


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