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24.01.09 / Damals im Schilf des Geserich ... / Erinnerungen und die Schatten der Vergangenheit begleiten einen ein Leben lang

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-09 vom 24. Januar 2009

Damals im Schilf des Geserich ...
Erinnerungen und die Schatten der Vergangenheit begleiten einen ein Leben lang

In Christas Schläfen begann es immer stärker zu pochen. Sie sehnte sich nach frischer Luft, vor allem aber nach Ruhe.

„Ich geh‘ mir mal ein bißchen die Beine vertreten“, raunte sie ihrer Schwester zu. „Der viele Sekt und die Tanzerei haben mir doch ganz schön zugesetzt.“ „Ich hab‘ auch schon ganz heiße Wangen“, nickte Gerda. „Wart‘ einen Moment, ich komm‘ mit. Ich sag‘ nur schnell Heinz Bescheid, damit sich die anderen keine Sorgen machen, wo wir zwei denn plötzlich abgeblieben sind.“

Just in diesem Moment spielte die Kapelle zu einem flotten Ländler auf. Stühlerücken setzte ein, Gelächter und Stimmengewirr verstärkten sich und dann wogte der Großteil der Hochzeitsgesellschaft zum x-ten Mal durch den Festsaal.

Als es Gerda in dem Tumult endlich gelang, sich ihrem Mann verständlich zu machen, drohte dieser scherzhaft mit dem Finger: „Fallt man bloß nicht ins Wasser! Schließlich befinden wir uns hier auf einer Insel!“ „Leider ist es nicht die im Geserich“, lächelte Christa, während sie sich bei Gerda einhakte. „Geht‘s dir auch so – man steht am Ufer eines Sees und statt sich einfach nur zu freuen, stellt man Vergleiche an.“ Sie dirigierte die Schwester zu einer schattigen Bank in Ufernähe. „Zum Beispiel hier, am Chiemsee – meine Augen sagen mir: Prächtig, dieses tiefe Blau; herrlich, die Fernsicht auf die Berge!

Aber mein inneres Auge sieht gleichzeitig den Geserich und schwupps – schon ist die Freude ein wenig gedämpft.“ Minutenlang herrschte Schweigen. Sie hörten das Platschen der Wellen am Anlegesteg, die Stimmen der Urlauber und Tagesgäste, die dem rund um die Insel führenden schmalen Uferpfad folgten; sie hörten Entengequake und das Tuckern und Stampfen der Schiffsmotoren, wenn ein Dampfer ablegte, – ihre Ohren vernahmen jedes Geräusch und doch schienen die beiden Frauen auf etwas zu lauschen, das nur sie selbst hörten.

„Eine schöne Hochzeit, findest du nicht auch?“, räusperte sich Christa schließlich. „Ich wußte gar nicht, daß man auf der Fraueninsel heiraten und in großem Stil feiern kann.“ „Unsere Nichte schon …“, lächelte Gerda. „Romantische Plätze gibt‘s hier in Bayern ja zuhauf. Und Evi hat sich halt den allerschönsten ausgesucht.“ „Ja, herrlich ist es hier, den See zu Füßen, die Berge zum Greifen nah. Alles sehr, sehr schön, aber irgendwie fehlt mir die Stille. Wenn du hier den Atem anhältst, dann ist alles nur noch viel lauter. Aber zu Hause, da hast du, wenn du am See gesessen hast, höchstens deinen eigenen Herzschlag gehört oder das Summen einer Biene.“

„Na ja, am Abend wird‘s hier auch still werden. Wenn die letzte Fähre weg ist, dann sind die Fischer unter sich, dann kehrt auch hier Ruhe ein.“ „Du verstehst mich nicht“, erwiderte Christa leise.

„Als Kinder sind wir auch im See herumgeschwommen, haben gejuchzt und gelärmt. Und wenn die Fischer nach Hause kamen und ihren Fang ausluden, ging es auch nicht immer leise zu. Aber die Stille – die wurde davon nicht zerstört, eher noch vertieft. Sie war immer da. Sie gehörte zum Land, zu uns. Man selbst kam sich gar nicht mehr wichtig vor unter diesem stillen Himmel.“

Gerda schurrte nachdenklich mit der Schuhspitze im Kies: „Ich weiß, was du meinst. Vielleicht empfinden Bergsteiger ähnlich wie wir: Wenn sie da oben nichts als Stille und den grenzenlosen Himmel um sich haben. Vielleicht fühlen sie sich dann auch Zeit und Raum entrückt. Und erleben das Glück völliger Selbstvergessenheit – so wie wir damals im Schilf des Geserich ...“

Christa suchte die Hand ihrer Schwester und drückte sie liebevoll. „Schöner kann man‘s gar nicht sagen. Und ich bin sehr froh, daß du genauso empfindest wie ich, immer noch empfindest.“ Noch eine ganze Weile saßen sie so da, ließen sich vom auffrischenden Seewind die Wangen kühlen und hingen ihren Gedanken nach, verloren an ein Land, das sie beide so sehr geprägt hatte.

Bei der Rück­kehr ins Gasthaus wurden sie von den anderen mit großem Hallo empfangen: „Na endlich – wir dachten schon, ihr seid mit dem feschen Dampferkapitän durchgebrannt! – Wo seid ihr denn die ganze Zeit gewesen?“

„Wenn wir‘s euch auch sagen würden“, erwiderte Christa mit feinem Lächeln, „ihr würdet es nicht glauben ...“

Renate Dopatka


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