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24.01.09 / Geschichten, die das Leben schrieb / In Erzählcafés treffen Jung und Alt zusammen, um einander zuzuhören

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-09 vom 24. Januar 2009

Geschichten, die das Leben schrieb
In Erzählcafés treffen Jung und Alt zusammen, um einander zuzuhören

Vor gut 20 Jahren wurden in Berlin sogenannte Erzählcafés ins Leben gerufen. Dort trafen sich vornehmlich Studenten. Heutzutage gibt es die eine oder andere Volkshochschule, welche diese Form der Erzählkultur wiederzubeleben versucht.

Erzählen ist freiwillig – zuhören hingegen Pflicht. Jeder Abend ist in sich einzigartig – mit Geschichten, die das Leben schrieb. Das ist das Motto der vielen Erzählcafés, die es mittlerweile landauf, landab gibt. Von Greifswald bis Zürich, von Hannover bis Salzburg treffen sich Menschen regelmäßig, um sich mit anderen auszutauschen. Und es sind keineswegs nur Ältere, die sich für dieses Projekt interessieren, auch jüngere Menschen hören gern zu, wenn Zeitzeugen berichten oder wenn andere aus ihrem Leben erzählen.

An der Universität Ulm und an der Hochschule Niederrhein (Mönchengladbach) spricht man von einer „Methode Erzählcafé“. Auch in der Erwachsenen- und Altenbildung scheint das Erzählcafé ein beliebtes Verfahren zu sein, Menschen miteinander und themenzentriert ins Gespräch zu bringen.

„Das Erzählcafé ist kein zufälliges Zusammentreffen und Plaudern, sondern sollte sorgfältig vorbereitet werden“, sagt Carmen Stadelhofer, Akademische Direktorin des Zentrums für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm (ZAWiW). Wichtig sei, daß ein Moderator die Veranstaltung leitet und sich die Teilnehmer an bestimmte Spielregeln halten. „Meist eröffnen ein bis zwei Personen das Erzählcafé mit einem Eingangsreferat von fünf bis zehn Minuten“, erläutert Stadelhofer. Danach könnten sich andere Teilnehmer einbringen, die nicht länger als fünf Minuten reden sollten. In der „Ich-Form“ berichten sie über die eigenen Erfahrungen zum vorgegebenen Thema. Einige stellen auch einen mitgebrachten Gegenstand vor oder singen ein Lied. Die Beiträge anderer könnten zwar kurz kommentiert, sollten aber nicht bewertet werden. „Dabei ergibt sich oft ein interessantes Puzzle von individuellen Erinnerungen“, sagt die Leiterin des Zeitzeugenprojekts des ZAWiW.

„Je älter man wird, um so mehr beschäftigt man sich mit dem vergangenen Leben. Viele Erfahrungen kann man durch Erzählen besser verarbeiten“, sagt Mia Peters, eine begeisterte Erzählcafébesucherin. „Es ist schön, wenn man seine Erfahrungen weitergeben kann.“ „Und es ist cool, wenn man statt abstrakte Geschichte vorgesetzt zu bekommen lebendige Zeitzeugen befragen kann“, ergänzt Enkelin Tina, die hin und wieder ins Erzählcafé kommt.

Das Publikum hat in der Tat eine wichtige Funktion. Fragen und Hinweise aus dem Zuhörerkreis befruchten die Erzählungen. So ist die Atmosphäre auch weniger formell. Kaffee und Kuchen tun ein übriges.

Wie problemlos die Generationen miteinander ins Gespräch kommen können, zeigt ein Beispiel aus Ulm: „Ich wollte nie Optiker werden, aber als ich erst einmal drin war, hab ich bemerkt, daß das ein ganz toller Beruf war. Und ich muß sagen, daß ich ein erfülltes Berufsleben hinter mir habe“, erzählt ein älterer Herr über seinen beruflichen Werdegang. Er erinnert sich daran, wie es dazu kam, daß sein Nicht-Berufswunsch später dann zu seinem „Ideal-Beruf“ wurde, obwohl ihn seine Eltern dazu gezwungen hatten. Die Schülerinnen einer 9. Hauptschulklasse, die zu diesem Treffen eingeladen waren, berichten von ihrer Situation, daß sie zwar zum Teil von ihren Eltern und Lehrern bei ihrer Suche nach einem Arbeitsplatz unterstützt werden, dafür aber mit Vorurteilen zu kämpfen haben, weil viele denken, „der Hauptschüler ist jemand, der bringt es sowieso nicht“.

Im Erzählcafé wird durchaus mehr getan als bloßes Erinnern, dort werden Lebenserfahrungen ausgetauscht, Tips weitergegeben und Mut gemacht. Der Ratschlag, in möglichst viele verschiedene Berufe einmal hineinzuschnuppern, erhält ein ganz anderes Gewicht aus dem Mund eines Menschen, der durch Umwege und Bereitschaft, Neues zu erproben, tatsächlich zu seinem „Ideal-Beruf“ gekommen ist.

„Die jungen Leute kommen gerne hierher“, so die Veranstalter. „Das Erzählcafé bietet ihnen eine lebendige Möglichkeit, ganz zwanglos außerschulisch älteren Menschen zu begegnen und sie kennenzulernen und dabei noch ganz beiläufig das freie Reden in einer größeren Gruppe zu erproben. Doch in erster Linie geht es im Erzählcafé um biographisches Lernen.“

„Gemeinsam nach den Spuren in der eigenen Vergangenheit und Gegenwart zu suchen und darüber zu erzählen soll allerdings nicht dem Selbstzweck dienen, sondern aufzeigen, wie die Vergangenheit die Gegenwart mitbestimmt und welche Richtungen und Perspektiven sich daraus für unsere Zukunft ergeben.“

Wenn auch ein Thema vorgegeben sein sollte, so kann sich dennoch eine gewisse Spontaneität ergeben. Etwa bei dem Thema „Mit Musik geht alles besser“. Da kennt einer nur die Bruchstücke eines Liedes, ein anderer hilft mit der Melodie, die nächsten kennen den weiteren Text – und bald singen alle miteinander im Chor.

Erzählcafés gibt es mittlerweile in fast allen größeren Städten. Informationen findet man unter www.erzaehlcafe.de oder unter www.zeitzeugenarbeit.de im Internet.     Silke Osman

Foto: Begegnung im Erzählcafé: In netter Runde Erfahrungen austauschen


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